Der Tote vom Strand - Roman
Moreno. Es sieht aus wie Trauer.
Sie versuchte, sich daran zu erinnern, an welcher Station die Weinende zugestiegen war. Moorhuijs oder Klampendikk vermutlich.
Ein oder zwei Stationen nach Maardam Kolstraat jedenfalls, wo sie selber eingestiegen war. Es war ein Lokalzug, der so ungefähr alle drei Minuten anhielt. Moreno bereute schon, keinen Expresszug genommen zu haben. Der wäre vermutlich doppelt so schnell gewesen, und vermutlich war der schaukelnde Waggon auch deshalb so leer. Abgesehen von einem älteren Paar, das Kaffee aus einer Thermosflasche trank, waren sie und das Mädchen die einzigen Fahrgäste... seltsam, dass die andere sich ihr gegenüber gesetzt hatte, wo doch so viel Platz war. Seltsam.
»Du weinst.«
Das sagte sie, ohne nachzudenken. Es rutschte ihr einfach so heraus, und sie fragte sich für einen Moment, ob Mikael Bau nicht Recht gehabt hatte, als er ihr zu einem Sonnenhut geraten hatte. Zu einem breitkrempigen Sonnenschutz, denn das Hochdruckgebiet war noch immer nicht weitergewandert.
Das Mädchen sah sie für einen Moment an. Dann putzte sie sich die Nase. Ewa Moreno wechselte die Stellung und wartete.
»Ja. Ich weine ein bisschen.«
»Das kann passieren«, sagte Moreno.
Herrgott, dachte sie. Was mach ich da nur? Jetzt kümmere ich mich auch noch um einen flennenden Teenie ... um ein betrogenes Mädel mit gebrochenem Herzen auf der Flucht vor ihrem Freund. Oder ihren Eltern. Auf jeden Fall auf der Flucht... Ich sollte weiterlesen und so tun, als hätte ich nie ein Wort mit ihr gewechselt. Ich werde erst wieder auf sie achten, wenn wir Lejnice erreicht haben, hab ich mit Lampe-Leermann nicht schon genug am Hals? Warum, zum Henker, kann ich bloß meinen Mund nicht halten?
»Ich weine, weil ich Angst habe«, sagte das Mädchen und schaute wieder in den Sonnenschein hinaus. »Ich bin auf dem Weg zu meinem Vater.«
»Ach?«, fragte Moreno neutral und verwarf ihre Fluchttheorie.
»Ich bin ihm noch nie begegnet.«
Moreno ließ ihr Buch sinken.
»Wie meinst du das?«
»Ich kenne ihn nicht.«
»Du bist deinem Vaternoch nie begegnet? Wieso denn nicht?«
»Weil meine Mutter das so für richtig hielt.«
Moreno dachte nach. Nahm einen Schluck aus ihrer Mineralwasserflasche. Hielt sie dem Mädchen mit fragendem Blick hin. Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Und warum hielt sie es für richtig, dass du nichts mit ihm zu tun hattest?«
Das Mädchen zuckte die Schultern.
»Ich weiß nicht.«
»Wie heißt du?«
»Mikaela Lijphart.«
»Wie alt bist du? Sechzehn, siebzehn?«
Das ist ja ein Verhör, ging Moreno plötzlich auf, und sie versuchte, ihre Verlegenheit dadurch zu überspielen, dass sie ein Kaugummipäckchen anbot. Mikaela Lijphart nahm sich zwei Stück und lachte kurz.
»Achtzehn«, sagte sie. »Wirklich achtzehn. Gestern war mein Geburtstag.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Moreno. »Nachträglich.«
»Verzeihung. Ich störe Sie beim Lesen.«
»Das macht nichts«, sagte Moreno. »In der Bahn kann ich mich ohnehin nicht konzentrieren. Ich lese alles immer mehrere Male. Wenn du von deinem Vater erzählen willst, höre ich gern zu.«
Mikaela Lijphart seufzte tief und schien mit sich zu ringen. Es dauerte drei Sekunden.
»Danke«, sagte sie. »Nein, ich bin ihm also noch nie begegnet. Oder zuletzt als sehr kleines Kind. Bis vorgestern wusste ich nicht, wer er ist. Er heißt Arnold Maager, das hat meine Mutter mir erzählt, weil ich jetzt achtzehn bin. Schönes Geschenk, was? Ein Vater!«
Moreno zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. DerZug bremste hörbar vor der nächsten Station.
»Er sitzt in der Klapse. Als ich zwei Jahre alt war, ist etwas passiert. Und deshalb hat sie ihn bisher geheim gehalten, meine Mutter.«
Großer Gott, dachte Moreno. Was erzählt sie mir da? Für einen Moment glaubte sie, an eine Drogensüchtige geraten zu sein — an einen leicht neurotischen Teenie, der sich vor einer Wildfremden interessant machen wollte. Junge Damen in Not neigten zu solchen Szenen, das wusste sie aus Erfahrung. Das hatten die Jahre bei der Jugendpolizei sie gelehrt. Zweieinhalb Jahre, genau gerechnet, die nicht schlecht gewesen waren, aber die sie auch nicht zurückhaben wollte. So wenig wie alle anderen, die sie vor kurzem erst verworfen hatte...
Aber es fiel ihr schwer zu glauben, dass Mikaela Lijphart ihr Lügen auftischte. Wirklich schwer. Sie kam ihr eher vor wie ein offenes Buch — mit ihren großen klaren Augen und den freimütigen Zügen. Sicher
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