Der Tote vom Strand - Roman
konnte sie sich irren, aber dass sie so sehr danebenlag, bezweifelte sie doch sehr.
»Und jetzt bist du auf dem Weg zu ihm?«, fragte sie vorsichtig. »Zu deinem Vater? Wo wohnt er?«
»In Lejnice«, sagte Mikaela Lijphart. »In einem Pflegeheim am Stadtrand. Ich habe angerufen, sie wissen, dass ich komme. Und sie wollten ihn vorbereiten... ja, so haben sie das gesagt. Vorbereiten. Himmel, das macht mich so nervös, aber ich muss es doch hinter mich bringen.«
Ewa Moreno suchte verzweifelt nach einem tröstlichen Wort.
»Was sein muss, muss sein«, sagte sie. »Hast du wirklich erst vorgestern erfahren, dass du einen Vater hast?«
Mikaela Lijphart zeigte wieder ihr kurzes Lachen.
»Nein. Ich weiß ja, dass jungfräuliche Geburten heutzutage eher selten vorkommen. Ich habe mit drei Jahren einen Stiefvater bekommen, und mit fünfzehn habe ich erfahren, dass er nicht mein richtiger Vater ist. Und dann... ja, dann musste ich drei Jahre warten, ehe meine Mutter mir von meinem richtigen Vater erzählt hat. Arnold Maager ... ich weiß nicht, ob mir der Name gefällt oder nicht.«
»Aberwarum?« Diese Frage konnte Moreno sich einfach nicht verkneifen. »Ich meine, es geht mich natürlich nichts an, aber ...«
»Ich weiß nicht«, sagte Mikaela Lijphart.
»Das weißt du nicht?«
»Nein, ich weiß nicht, warum sie mir das nicht sagen konnte. Oder wollte. Sie hat mir eine Menge über Verantwortung und Reife und so erzählt, meine Mutter, aber ... nein, keine Details. Als ich klein war, ist etwas vorgefallen, mehr weiß ich nicht.«
Moreno schaute aus dem Fenster und stellte fest, dass sie schon in Boodendijk waren. Es konnte nicht mehr weit bis Lejnice sein. Ein oder zwei Stationen vermutlich. Hinter den wenigen Häuserzeilen konnte sie die Dünen erkennen. Der Himmel sah fast hysterisch aus, so blau war er.
Was, zum Teufel, soll ich denn sagen, fragte sie sich. Das arme Kind muss sich doch vollkommen verlassen vorkommen.
»Du hast nicht überlegt, jemanden mitzunehmen?«, fragte sie dann. »So nervös, wie du bist. Eine Freundin... oder deine Mutter.«
»Ich möchte allein mit ihm sein«, erklärte Mikaela Lijphart. »Meine Mutter wollte überhaupt nicht, dass ich zu ihm fahre, aber jetzt bin ich ja schließlich achtzehn.«
»Allerdings«, sagte Moreno.
Einige Sekunden verstrichen. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
»Ich begreife nicht, warum ich das alles einem wildfremden Menschen erzähle«, sagte Mikaela Lijphart und versuchte, ein wenig energischer zu wirken. »Sie müssen mich doch für total verrückt halten ... ganz zu schweigen von meiner Mutter und meinem Vater. Die total verrückte Familie. Und das sind wir vielleicht auch, aber ich habe wirklich noch nie ...«
»Manchmal kann es gut tun, mit Fremden zu reden«, fiel Moreno ihr ins Wort. »Man kann sagen, was man will, ohne Rücksicht nehmen zu müssen. Ich fange auch manchmal auf diese Weise ein Gespräch an.«
Jetzt öffnete das Gesicht des Mädchens sich wirklich zu einem Lächeln, und Moreno konnte feststellen, dass sie noch anziehender aussah, wenn die Sorgen sich für einen Moment verzogen.
»Genau. Das gilt auch für meinen Vater. Über die Begegnung mit ihm, meine ich. Wir sind uns doch auch fremd. Ich will sonst niemanden dabei haben, wenn ich zum ersten Mal mit ihm spreche. Es wäre... es wäre nicht richtig, verstehen Sie? Ihm gegenüber nicht richtig.«
Moreno nickte.
»Du steigst also in Lejnice aus?«, fragte sie.
»Ja. Und Sie?«
»Auch in Lejnice. Es geht sicher gut, du wirst schon sehen. Mit deinem Vater meine ich, das spüre ich.«
»Ich auch«, verkündete Mikaela Lijphart optimistisch und richtete sich ein wenig auf. »Ich glaube übrigens, wir sind bald da, ich sollte vielleicht kurz zur Toilette gehen, um mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Es hat gut getan, mit Ihnen zu sprechen.«
Ewa Moreno merkte plötzlich, dass sie selber eine Träne im Augenwinkel hatte. Sie tätschelte Mikaela Lijpharts Oberschenkel und räusperte sich.
»Tu das. Ich warte auf dich. Bis zur Station haben wir ja noch ein Stück.«
Mikaela Lijphart stand auf und verschwand auf der Toilette ganz hinten im Wagen. Moreno holte tief Atem. Steckte ihr Buch in die Tasche und stellte fest, dass durch das Fenster jetzt das Meer zu sehen war.
Auf dem Bahnhofsvorplatz verabschiedete sie sich von Mikaela Lijphart, die in den gelben Bus stieg, der zum Sidonisstift fuhr, einem einige Kilometer nördlich im Binnenland gelegenen
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