Der Tote vom Strand - Roman
Asphaltband, das in der Hitze zwischen hohen, mit Blumen bewachsenen Graswällen fast zu kochen schien. Das Sidonisheim sollte nur noch einen Kilometer entfernt liegen, aber sie wünschte, es wäre noch kürzer. Oder sie hätte sich aus Lejnice wenigstens eine Flasche Wasser mitgebracht.
Denn es war heiß. Unerträglich heiß. Es war halb zwei, zweifellos der perfekte Zeitpunkt für eine Wanderung in der Sonne, dachte sie. Für einen prachtvollen Sonnenstich.
Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Das auch noch.
Sie schaute sich noch einmal um. Versuchte, sich ein Bild vom Ort zu machen. Der schien höchstens aus einem Dutzend Häusern zu bestehen, doch hinter einem davon ragte etwas hervor, das wie ein Reklameschild aussah. Vielleicht eine Art Geschäft... da müsste sie doch zumindest eine Flasche Wasser
auftreiben können. Sie lud sich den Rucksack auf die Schultern und machte sich auf den Weg zu dem rotbraunen Klinkerhaus.
Und sie sollte sich auch noch einmal vergewissern, ob sie wirklich auf dem richtigen Weg zum Heim war, beschloss sie.
Zum Heim und zu ihrem Vater.
Es handelte sich wirklich um einen kleinen Lebensmittelladen. Sie kaufte einen Liter Wasser, ein Eis und eine Packung Kekse mit Zitronengeschmack. Sie ließ sich außerdem den Weg zum Sidonisstift erklären. Sie brauchte nur der Straße zu folgen und beim Schild nach der Brücke rechts zu gehen. Es sei wirklich nicht weit. Ob sie ein Auto habe, fragte die freundliche rundliche Frau hinter dem Tresen. Andernfalls könne sie in einer halben Stunde vom Lieferwagen mitgenommen werden, der Laden brachte fast jeden Tag Vorräte ins Heim.
Mikaela Lijphart lächelte und lehnte dankend ab. Sagte, sie wolle einen Spaziergang machen, bei dem schönen Wetter.
»Wunderbares Wetter«, stimmte die Frau zu und fächelte sich mit einer Illustrierten Luft zu. »Fast zu viel des Guten, könnte man sagen.«
Im Gehen dachte sie über alles nach, was sie der Frau im Zug erzählt hatte.
Die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit.
Nicht ganz die ganze. Sie wusste ein wenig mehr, als sie zugegeben hatte, und jetzt hatte sie plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil sie geschwiegen hatte. Einen Hauch von schlechtem Gewissen jedenfalls. Die Frau war freundlich gewesen und hatte sich um sie gekümmert. Sie hätte wirklich etwas mehr erzählen können, wirklich.
Andererseits hatte sie auch nicht direkt gelogen. Es stimmte wirklich, dass ihre Mutter ihr so wenig über die Vorgeschichte erzählt hatte.
Es war etwas vorgefallen.
Vor sechzehn Jahren.
Etwas mit ihrem Vater.
Was? Was? Als sie jetzt an das Gespräch mit ihrer Mutter dachte, das sie am Vortag geführt hatte, konnte sie deren Haltung fast noch weniger begreifen. Noch weniger als am Frühstückstisch, als der Abstand zwischen ihnen meilenweit gewesen und der Name zum ersten Mal gefallen war.
Arnold Maager.
Arnold? Zwölf Jahre hatte sie einen Vater namens Helmut gehabt. Drei Jahre einen namenlosen. Und jetzt hieß er plötzlich Arnold.
»Was ist denn vorgefallen?«, hatte sie ihre Mutter gefragt. »Jetzt erzähl schon, was so entsetzlich war. Damals vor sechzehn Jahren!«
Aber ihre Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt.
»Du musst doch begreifen, dass du auch B sagen musst, wenn du A gesagt hast«, hatte Mikaela gefordert. Das sagte die Mutter selbst auch immer. »Ich habe ein Recht, es zu erfahren.«
Neues Kopfschütteln, jetzt noch energischer. Danach die Tirade: Ja, du hast das Recht zu erfahren, wer dein Vater ist, Mikaela, und das weißt du jetzt. Aber es wäre nicht gut für dich zu wissen, warum ich ihn verlassen habe. Glaub mir das. Ich würde dir das nicht verschweigen, wenn es nicht zu deinem Besten wäre, das musst du mir glauben.
»Ich werde es schon herausfinden.«
Das ist deine Sache. Du bist volljährig. Aber ich denke nur an dein Bestes.
Weiter waren sie nicht gekommen, obwohl sie noch eine halbe Stunde in der Küche gesessen hatten. Mikaela hatte gebettelt und gefleht, sie hatte geschimpft und geweint, aber der Entschluss ihrer Mutter war unumstößlich gewesen.
Das kam manchmal vor. Mikaela Lijphart war schon häufiger mit dem Kopf gegen die Wand gerannt. Sie wusste, wie das war, was für ein Gefühl das war. Aber diese seltsame Distanz zwischen ihr und ihrer Mutter gab es sonst nicht. Seltsam und auch ein wenig überwältigend war die.
Tante Vanja war dann die Rettung gewesen, auch das nicht zum ersten Mal. Mikaela hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sie
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