Der Tote vom Strand - Roman
war sie bestürzt über seinen Tod. Darüber, dass er so rasch die Konsequenzen gezogen hatte. Nach nur wenigen Stunden,
wenn sie das richtig verstanden hatte. Münster hatte am Freitagnachmittag mit ihm gesprochen, und irgendwann im Laufe des Abends oder der Nacht hatte deBries sich das Leben genommen. Ein guter Freund hatte ihn morgens gefunden, seine Tür war unverschlossen gewesen. Zweifel waren nicht angebracht. Erklärungen oder Entschuldigungen auch nicht.
Denn was gäbe es schon zu sagen?, überlegte Moreno. Entschuldigung? Wie sollte das möglich sein?
»Wie hast du es erfahren?«, fragte sie, denn das hatte Münster noch nicht erzählt.
»Dieser Freund hat mich angerufen. Auf seinem Küchentisch lag ein Zettel mit meiner Nummer.«
Van Veeteren steckte sich eine Zigarette an. Sie schwiegen eine Weile.
»Ich hatte schon auf ihn getippt«, gab Moreno zu. »Wenn es denn überhaupt stimmen sollte. Er war irgendwie der einzig Mögliche. Wissen die anderen schon Bescheid? Dass er tot ist, meine ich.«
Münster schüttelte den Kopf.
»Nein. Unseres Wissens nach jedenfalls nicht. Wir dachten, wir könnten zuerst ...«
Er suchte nach dem passenden Wort.
» ... unser Schweigen festlegen«, vollendete der Kommissar . »Wenn du nichts dagegen hast. Das Einfachste wäre es natürlich, wenn wir ebenso bestürzt wären wie alle anderen. Wenn ihr kein Wort verratet und dieses Foto nicht unter den Kollegen herumreicht. Aber du siehst das vielleicht anders ... von einem Frauenstandpunkt aus, beispielsweise?«
Moreno dachte zwei Sekunden nach. Mehr war nicht nötig.
»In diesem Fall bin ich bereit, Frauen- und Männerstandpunkte an den Nagel zu hängen«, sagte sie. »Offenbar gibt es rein menschliche Rücksichten, die wichtiger sind.«
»Ganz meine Meinung«, sagte Van Veeteren. »Das wollte ich nur wissen. Dann ist es abgemacht, dass ich mich um das da kümmere?«
Moreno tauschte einen Blick mit Münster und nickte. Van Veeteren nahm den Umschlag, faltete ihn zweimal zusammen und ließ ihn in seiner Jackentasche verschwinden. Schaute auf seine Armbanduhr.
»Darf man zwei alte Kollegen vielleicht auf ein Glas einladen?«, fragte er dann. »Meine Schachpartie fängt erst in einer Stunde an.«
Moreno verließ das Lokal zusammen mit Münster gegen neun Uhr. Er bot an, sie nach Hause zu fahren, doch sie lehnte ab und ging lieber zu Fuß. Der Abend war noch immer warm, Straßen und Cafés reich besucht. Sie machte einen Umweg über die Langgraacht und die Kellnerstraat. Überquerte den Keymer Plejn und die Windemeerstraat, kam am Antiquariat des Kommissars vorbei und sah, dass er wegen Urlaubs bis zum 22. geschlossen hatte.
Auf dieser Wanderung durch die Stadt versuchte sie, an Inspektor deBries zu denken, aber es fiel ihr nach dem Gespräch mit Münster und Van Veeteren durchaus nicht leichter, ihn sich vor Augen zu rufen. Es war eher schwerer geworden. Doch sie konnte dieser Frage ja auch nicht ausweichen. Würde sie von nun an immer an ihn als den Kinderficker denken? Sollte das für immer seine Grabinschrift sein? Würde sie jemals andere Seiten seines Lebens erkennen können?
Sie hatte ihn nicht besonders gut gekannt, hatte ihn jedoch als Kollegen respektiert. Wie man so sagte. Als kompetenten und fähigen Polizisten. Oder nicht? Wurden solche Beurteilungen von solchen Dingen ebenfalls gefärbt? Würde die Zeit jemals einen mildernden Grauschleier über das ausbreiten, was sie jetzt empfand? Über diese unüberbrückbare Ablehnung? Sie wusste es nicht.
Und Arnold Maager, dachte sie plötzlich.
Den sie nie getroffen hatte, den sie nur vom Bild her kannte. Was empfand sie, wenn sie versuchte, ihn sich vorzustellen?
Es war ähnlich wie mit deBries, ging ihr jetzt auf. Es fiel ihr
schwer, irgendeine Form von Sympathie oder Verständnis zu empfinden. Es war vielleicht möglich, ihn zu bedauern, Mitleid mit ihm zu haben — Maagers Strafe entsprach ja wohl kaum seinem Verbrechen —, aber diese Männer, deBries und Maager, ja, hätten sie nicht zumindest begreifen können, dass es eine Kausalkette gibt? Dass Taten früher oder später zu Konsequenzen führen?
Immer. Auf irgendeine Weise.
Oder urteile ich zu hart?, überlegte sie. Ist es nur das Miststück in mir, das alles zu einer Art Moral zu veredeln versucht?
»Ach, Scheiß drauf«, murmelte sie dann zu ihrer Überraschung. Es bestand zwar ein großer Unterschied zwischen der Sechzehnjährigen aus Lejnice und der Elfjährigen (oder wie alt sie nun
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