Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
Er schien verlegen, und dennoch glaubte Gerald auch etwas Stolz in seiner Stimme zu hören. »Die letzte Ausgabe habe ich schon dabei … wenn es Sie wirklich interessiert.«
Er griff in die Schultasche und reichte Gerald ein Exemplar, das mit Heftklammern zusammengehalten wurde. »Rote Beete – die Schülerzeitschrift des MTG «.
»Danke«, sagte Gerald und blätterte in dem Heft. »Ich werde es lesen, das verspreche ich dir.«
Wendelin Scharnagl murmelte etwas Unverständliches, drehte sich auf dem Absatz um und ging Richtung Flaucher, aber nicht zu seinen Schulkameraden. Die waren immer noch damit beschäftigt, die Scherben aufzusammeln.
Batzkos Blick unterstellte Gerald, er hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Entspann dich. Du musst doch hundemüde sein«, sagte Nele zu ihm, als Gerald um halb acht die Wohnungstür aufschloss und sich erschöpft auf einen Stuhl in der Küche fallen ließ. »Sevi schläft schon längst, ihm sind schon in der Badewanne die Augen zugefallen. Kein Wunder, er hat sich an diesem Tag bewegt wie bei meinen Eltern in einer ganzen Woche nicht.«
»Okay. Eine Dusche wird mir guttun.«
Während der drei Schritte Richtung Schlafzimmer hatte er bereits vergessen, dass Severin dort schlief, und die Tür geöffnet, ohne besonders vorsichtig zu sein. Aber sein Sohn schlief tief und fest, mit gleichmäßigem, ruhigem Atem. Wenn Kinder so schlafen, konnte man unbesorgt neben ihnen einen Schrank in seine Einzelteile zerlegen, dachte Gerald und öffnete die unterste Schublade der Kleiderkommode, in der seine Unterwäsche lag. Er war mit den Gedanken noch bei seinem Sohn, als seine Finger plötzlich auf etwas Unerwartetes stießen. Es fühlte sich an wie Papier. Gerald dachte an einen Kassenbon oder einen Hinweis, was beim Waschen zu beachten war, und wollte einfach eine Unterhose herausfischen, doch der Zettel schien merkwürdig schmal. Es war ein Streifen normales Schreibpapier: Ich danke dir für die wunderschöne Nacht . Und dafür, dass du die Grenze respektiert hast. Anne .
Zuerst fühlte sich Gerald bloßgestellt und unangenehm berührt, als wäre es obszön, diesen Zettel ausgerechnet dort zu hinterlegen. Dann fiel ihm ein, dass Anne in ihrer SMS eine Mutprobe erwähnt hatte. Das war sie also. Gerald hörte Nele in der Küche hantieren, und sofort fühlte sich der Zettel an wie der Beweis für ein Verbrechen, das er begangen hatte. Nicht auszudenken, wenn Nele ihn zufällig beim Einräumen seiner Wäsche entdeckt hätte. Gerald spürte, wie er kreidebleich wurde. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als den Zettel in kleine Stücke zu zerreißen und im Klo herunterzuspülen.
Während Minuten später das heiße Wasser auf seinen Körper prasselte, stöhnte er auf. Er schämte sich, so mit dem Zettel umgegangen zu sein. Er wusste, was er Anne bedeutete, und er wusste, was Anne ihm bedeutete. Er hatte das Gefühl, keinen Schritt mehr tun zu können, ohne dabei entweder Nele oder Anne zu hintergehen.
Als Gerald kurz darauf in die Küche kam, hatte Nele ein frisches T-Shirt angezogen und sich geschminkt. Als hätte sie seinen erstaunten Blick bemerkt, errötete sie leicht und lächelte in sich hinein. Sie stießen mit den Gläsern an und tranken den ersten Schluck. Gerald war erleichtert, dass sie seine Unruhe nicht wahrzunehmen schien.
»Was ist nur los?«, fragte er so leise, als läge sein schlafender Sohn direkt neben ihm.
»Passt dir etwas nicht?«, flüsterte sie zurück und legte den Kopf leicht schräg.
»Du weißt genau, wie ich es meine.«
Es war vollkommen still in der Wohnung, aber aus dem Innenhof drangen Geräusche bis zu ihnen. Jemand fuhr seinen Wagen aus der Garage. Je nach Geschicklichkeit des Fahrers variierte die Dauer und die Lautstärke des Manövers. Nach ein paar Jahren bildete Gerald sich ein, jeden Mitmieter alleine aufgrund des Geräuschs identifizieren zu können.
»Wie ich schon gesagt habe: Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken.« Nele drehte das Weinglas in ihrer Hand. »Monatelang habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Ich habe irgendwie so reagiert wie im Krieg, als müsste ich Sevi und mich gegen dich verteidigen. Ich habe Verbündete wie meine Eltern um mich geschart. Und es gab niemanden, der meine Entscheidung wirklich in Frage gestellt hätte.«
Sie machte eine Pause, das Auto im Hof hatte sich mittlerweile aus der Garage und der Einfahrt gequält.
»Du hast mich hintergangen und verletzt. Und es tut weiterhin weh, wenn ich daran denke.
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