Der Toten tiefes Schweigen
es natürlich wissen, seine Mutter und Lizzie wohl eher nicht, denn sie hatten nie das Licht gesehen oder die Herrlichkeit erfahren, hatten nie dieses überwältigende Erlebnis von Schönheit gehabt oder die Stimmen gehört, die unablässig wie Sirenen zu ihm sangen, hatten nie die schönen Gesichter gesehen, die zu ihm aufgerichtet waren, die ausgestreckten Arme, die ihn willkommen hießen.
Doch vielleicht würde es ihnen zuteil, wenn sie ihn sahen. Dann würden sie wissen. Sie würden erleuchtet. Endlich würden sie begreifen.
Er breitete die Arme aus.
»Sie heben die Schwingen empor wie die Adler.«
Er flog.
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Zweiundsiebzig
S imon Serrailler bog nach links ab und fuhr aufs Land hinaus. Zehn Kilometer, dann bog er noch einmal ab auf die hochgelegene, gewundene einspurige Straße, die zum Featherly-Moor hinaufführte. Anderthalb Kilometer weiter, auf der anderen Seite, klammerte sich das kleine Dorf Featherly an die Hänge und duckte sich vor dem Wind, der ein Dreivierteljahr darauf zuwehte. Doch jetzt war die Herbstsonne wieder da. Er parkte neben dem Pub und ging hinein. Die Bar war leer bis auf zwei Wanderer in der anderen Ecke, die Rucksäcke und Regenjacken neben sich auf den Boden gestapelt hatten.
»Hallo, Gordon.«
»Da soll mich doch der Teufel holen! Hab dich lange nicht hier gesehen. Was soll’s denn sein?«
»Zitronenlimonade. Kann ich sie mit nach draußen nehmen?«
»Hab die Gartentische nach dem Regen gestern Nacht hochgestellt. Dachte, der Winter ist da. Wie wär’s mit der Bank vorne?«
Die Wanderer schickten sich an aufzubrechen.
»Ich geh da rüber.«
Im Pub wurde es still. Im Sommer und am Wochenende war es mit Wanderern und Kletterern überfüllt. Unter der Woche war es für gewöhnlich leer, und obwohl Gordon Speisen anbot, hatte das
Arms
nie versucht, mit den Restaurantkneipen um Lafferton herum zu konkurrieren, und sich lieber an Schinken mit Ei und Käseteller gehalten.
Simon nahm sein Glas mit in eine Ecke. Gordon zog sich in den hinteren Raum zurück. Kurz darauf vernahm Simon tapsende Schritte. Eine kalte Nase drückte sich an seine Hand. Byron, der Labrador des Pubs, ließ sich zu seinen Füßen nieder. Simon war dem Wirt dankbar, dass er ihn nicht mit den üblichen Fragen nach dem Schützen traktierte und ihm erzählte, wie schlecht es für das Geschäft sei, und seine eigene Meinung darüber zum Besten gab, was wie unternommen werden sollte. Simon glaubte an die Wirksamkeit einer ruhigen halben Stunde weg vom Polizeirevier, dem Telefon, der allgegenwärtigen Pressemeute draußen, und genehmigte sie sich ziemlich häufig. Manchmal war es besser, sich Zeit zum Denken zu nehmen, statt zu handeln.
Als er gerade das Polizeirevier verließ, war Graham Whiteside hinter ihm hergelaufen. »Sir, soll ich nicht mitkommen?«
Simon musste an Grahams Vorgänger denken. Nathan hatte ihn dauernd begleitet und war oft dabei gewesen, wenn Simon seinen Gedanken nachhing. Doch Simons Verhältnis zu dem neuen Sergeant war anders. Eigentlich hatte er gar kein Verhältnis zu ihm. Grahams Persönlichkeit irritierte und verärgerte ihn.
»Sir, es geht um diesen Landstreicher. Der aus dem Hangar …«
Doch Simon hatte so getan, als hätte er nichts gehört, und sich schnell entfernt.
Jetzt wurde sein Frieden gestört, als eine Gruppe Wanderer in die Bar kam und den Raum mit Geplapper und dem Stampfen von Stiefeln auf dem Holzboden füllte. Simon stöhnte auf und leerte sein Glas. Auf dem Weg nach draußen sagte eine Frau zu seiner Linken gerade: »Da überlegt man sich doch zweimal, ob man heiraten soll, oder?«
Er blieb wie angewurzelt stehen. Das war schon öfter vorgekommen, eine zufällige Bemerkung oder eine flüchtige Wahrnehmung, die Licht ins Dunkel brachte. Er ließ den Wagen stehen und ging über den Weg zur Dorfstraße. In Vorgärten blühten noch Blumen, unter Bäumen häuften sich Äpfel und Pflaumen. Niemand war unterwegs. Featherly war eine weitere Schlafstadt für Lafferton. Es gab weder Geschäfte noch eine Schule, obwohl die Kirche hübsch war und hoch auf einer Böschung den Ort beherrschte. Er öffnete das Tor und ging zwischen den schiefen Grabsteinen hinauf. Ein Kaninchen hoppelte aus seinem Blickfeld, ein Grünspecht hämmerte an einer Fichte. Die Kirche war abgeschlossen.
Eine Hochzeit. Warum sollte jemand auf eine Hochzeitsgesellschaft schießen? Serrailler glaubte nicht an Zufälle. Da war immer etwas.
Da überlegt man es sich doch zweimal, ob man
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