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Der Totengarten

Der Totengarten

Titel: Der Totengarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Pelecanos
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anzutun. Doch sie blieb still sitzen und sah zu, wie das Gesicht des jungen Mannes näher kam, und als es sich ganz dicht vor der Scheibe befand, musterte sie es. Sie las in seinen braunen Augen, dass er nicht gekommen war, um ihr etwas anzutun, und sie ging zu dem Fenster und öffnete es, um mit ihm sprechen zu können.
    »Chantel?«
    »Leise.«
    »Du bist Chantel«, sagte Tate, jetzt beinahe flüsternd.
    »Ja.«
    »Ich heiße Michael.«
    »Werdet ihr uns umbringen?«
    »Wenn du hierbleibst, ja.«
    »Und warum schießt du dann noch nicht?«
    »Du kannst abhauen, bevor es losgeht.«
    Chantel warf einen Blick über die Schulter. Tate sah, dass ihre Hand zitterte, und ergriff sie durch das offene Fenster.
    »Komm schon, Chantel«, drängte Tate. »Was hier passieren wird, das wird passieren, egal, ob du bleibst oder nicht. Wenn du bleibst, wirst du sterben.«
    »Ich muss meinen Koffer holen«, sagte Chantel.
    »Und den Autoschlüssel«, ergänzte Tate.
    Er sah zu, wie sie zu einer Kommode an der gegenüberliegenden Wand des Schlafzimmers ging und auf etwas hinunterblickte. Sie zögerte, dann bückte sie sich, und als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie einen Koffer in der Hand. Sie kam wieder ans Fenster; er nahm ihr den Koffer ab und half ihr herauszuklettern, nahm sie in die Arme und hob sie herunter, bis ihre Füße sanft den Boden berührten.
    Er schaute auf ihre Füße. Sie trug Riemchensandalen mit aufgedrucktem Leopardenmuster und mindestens sieben Zentimeter hohen Absätzen. Er hatte mal in einer Zeitschrift ein Foto von genau diesen Schuhen gesehen.
    »Wir müssen durch den Wald«, sagte Tate. »Hast du nichts Passenderes in deinem Koffer? Diese Donald Pliners müssen zweihundertfünfzig Dollar wert sein.«
    »Ich habe keine anderen Schuhe eingepackt«, erwiderte Chantel, die ihn jetzt interessiert ansah. »Woher weißt du, dass es Pliners sind?«
    »Ich bin sozusagen modebewusst«, erklärte Tate. »Aber keine Sorge, ich bin nicht irgendwie komisch.«
    »Den Eindruck hatte ich auch nicht.«
    »Gehen wir.« Tate führte sie sanft am Ellenbogen auf die Bäume zu.
    »Ich hoffe, du hast einen Plan«, sagte Chantel.
    Michael Tates Plan war, sich tief in den Wald zurückzuziehen und zu warten, bis das Chaos losbrach. Dann würden er und Chantel zur Hill Road hinunterlaufen und mit Chantels Solara verschwinden. Wohin, wusste er nicht.
    »Vertrau mir, Mädchen«, sagte Tate.
    Sie drückte seine Hand, und gemeinsam gingen sie in den Wald.

    Officer Grady Dunne fuhr langsam die Hill Road entlang. Als er sich der Abzweigung zu Romeo Brocks Haus näherte, bemerkte er die vielen Fahrzeuge. Da standen Brocks Impala und der rote Toyota, von dem Brock gesagt hatte, dass er seiner Flamme gehörte. Und ein ganzes Stück dahinter ein Mercedes der S-Klasse und ein Maxima neueren Modells. Dunne fuhr auf den Randstreifen und schaltete den Motor ab. Er dachte kurz daran, Brock per Handy anzurufen, entschied sich jedoch dagegen. Wenn die Besitzer der Autos die Männer waren, die ihr Geld zurückfordern wollten, wie Brock es vorhergesagt hatte, dann waren sie womöglich bereits im Haus. Dunne beschloss, auf den Überraschungseffekt zu setzen.
    Er zog seine Dienstwaffe, eine Glock 17, aus dem Rückenhalfter und schob sie unter den Sitz des Explorer. Dort war seine neueste Wegwerfpistole, eine Zehn-Schuss-Heckler & Koch, Kaliber.45, mit abgefeilter Nummer, die er einem Verdächtigen in Park View abgenommen hatte. Er steckte sie in das Halfter und stieg aus dem SUV.
    Dunne ging den Schotterweg entlang. Er war wütend und adrenalingeladen – dieser Typ, der sich als Ex-Cop ausgab, der erpresserische Chauffeur, hatte ihn in Rage gebracht. Nicht dass Dunne Grund gehabt hätte, sich Sorgen zu machen. In jener Nacht an der Oglethorpe war es genau so gewesen, wie er gesagt hatte: Er hatte eine Informantin, eine Tänzerin und Prostituierte, die er kannte, im Wagen mitgenommen, und sie hatte ihm unten an den Metrogleisen einen geblasen. Wenn jemand es darauf anlegte, konnte er deswegen Scherereien mit der Dienstaufsicht bekommen, aber das Mädchen würde niemals aussagen. Und er hatte tatsächlich nicht gewusst, dass in jener Nacht eine Leiche in dem Garten lag. Als er es erfuhr, war er zum Tatort gefahren und hatte sich bei den Ermittlern vor Ort vergewissert, dass niemand ihn in der vergangenen Nacht hier gesehen hatte. Von dem Mann an der Tankstelle, nach dem der Chauffeur ihn gefragt hatte, hatte Dunne noch nie gehört.
    Sein Zorn hatte

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