Der Totenleser
Mauern, Grenzen oder Schubladen. Und es kennt auch keine Vorurteile.Wenn Ihr mich aufnehmt, versichere ich Euch, dass ich so hart arbeiten werde wie der fleißigste Eurer Studenten und das, falls nötig, bis ich mir die inneren Organe, die Ihr so verachtet, vollständig ruiniert habe.«
Ein beleibter, schwitzender Lehrer hob den Arm, um anzuzeigen, dass auch er etwas zu sagen habe. Keuchend tat er die wenigen Schritte bis zum Podium, sie ließen ihn schnaufen, als hätte er einen Berg erklommen. Er musterte Ci eingehend und verschränkte die Hände unter dem Bauch.
»Wie ich höre, hast du gestern die Ehre unserer Akademie befleckt, indem du wie ein Räuber hier eingedrungen bist. Das erinnert mich an einen Mann, von dem seine Nachbarn mir einmal sagten: ›Gut, er mag ein Dieb sein, aber er ist ein wunderbarer Flötist.‹ Weißt du, was ich ihnen geantwortet habe? ›Gut, er mag ein wunderbarer Flötist sein, aber er ist ein Dieb.‹« Über seinen vollen Lippen hatten sich Schweißperlen gesammelt. Er kratzte sich den fetten Hals und tat, als dächte er über seine nächsten Worte nach. »Was ist deine Wahrheit, Ci? Die des jungen Mannes, der Befehle missachtet, aber Tote lesen kann, oder die des jungen Mannes, der Tote lesen kann, aber Befehle missachtet? Mehr noch: Warum sollten wir einen Landstreicher wie dich in die ehrwürdigste Akademie des Kaiserreichs aufnehmen?«
Ci erschrak. Er war davon ausgegangen, dass Ming in seiner Eigenschaft als Direktor seine Meinung unwidersprochen durchsetzen werde.
»Verehrter Meister«, Ci verneigte sich erneut, »ich bitte Euch, mein gestriges Verhalten zu entschuldigen. Es war ein schändlicher Akt, der einzig meiner Unerfahrenheit, meiner momentanen Ohnmacht und Verzweiflung zuzuschreiben ist. Ich weiß, das entschuldigt mich nicht, und ich sollte unbedingt durch Taten beweisen, dass ich Euer Vertrauen verdiene. Dazu aber, um diesen Beweis zu erbringen, bedarf ich zugleich Eurer Nachsicht.« Er wandte sich dem übrigen Gremium zu. »Menschen begehen Fehler, selbst die weisesten. Und ich bin bloß ein Bauernbursche, ein lernbegieriger Bauernbursche. Ist Bildung nicht der Auftrag dieser Akademie? Wenn ich alle Regeln kennen, alle Gebote einhalten würde, wenn ich keinen Wissensdrang in mir spürte, wozu müsste ich noch studieren? Und wie könnte ich jetzt schon vermeiden, was mich unvollkommen macht? Heute stehe ich vor einer Möglichkeit, die so groß ist wie das Leben selbst. Denn was ist das Leben ohne Wissen? Es gibt nichts Traurigeres als einen Blinden oder einen Tauben. Und das bin ich in gewisser Weise. Erlaubt mir zu sehen und zu hören, und ich verspreche Euch, dass Ihr es nicht bedauern werdet.«
Der dicke Lehrer atmete einige Male schnaufend. Dann nickte er und kehrte schwerfällig in seine Reihe zurück, womit er das Wort an den letzten Professor übergab, einen gebückten Alten mit matten Augen, der wissen wollte, was Ci dazu gebracht habe, Mings Einladung anzunehmen.
Darauf fand Ci nur eine kurze Antwort: »Weil es mein Traum ist.«
Der Greis schüttelte den Kopf.
»Sonst nichts? Es gab einmal einen Mann,der davon träumte, zum Himmel zu fliegen. Aber als er sich in einen Abgrund stürzte, brach er sich an den Felsen nur die Knochen.«
Ci betrachtete die erloschenen Augen des Alten. Dannstieg er vom Podium und trat auf den Mann mit dem leeren Blick zu.
»Wenn wir uns etwas wünschen, was wir gesehen haben, müssen wir bloß den Arm ausstrecken. Wenn das, was wir uns wünschen, aber ein Traum ist, müssen wir unser Herz ausstrecken.«
»Bist du sicher? Manchmal führen die Träume in die Irre.«
»Mag sein. Aber hätten unsere Vorfahren nicht von einer besseren Welt für uns geträumt, liefen wir immer noch in Lumpen herum. Mein Vater hat einmal zu mir gesagt«, Cis Stimme bebte, als er dies aussprach, »dass es keine vertane Zeit sei, wenn ich versuchte, ein Schloss in der Luft zu errichten. Mit Sicherheit gehöre es genau dort hin. Ich müsse mich nur ordentlich anstrengen, um tragfähige Fundamente zu bauen.«
»Dein Vater? Seltsam. Hat uns Ming nicht eben erklärt, Du hättest das Gedächtnis verloren?«
Ci biss sich auf die Lippen. Dabei wurden seine Augen feucht.
»Das ist das Einzige, was ich noch von ihm weiß.«
* * *
Im Großen Saal der Richter warteten Grüppchen von tuschelnden Studenten unruhig auf das Eintreffen des neuen Schülers. Alle rätselten,wer dieser Totenleser in Wahrheit sein mochte und worin seine herausragenden
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