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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Er reichte Ci das Buch seines Vaters. »Hier. Es gehört dir.«
    Zitternd nahm Ci es entgegen. Er verstand noch immer nicht, warum Ming ihm den Zugang zur Akademie gewährte, aber wenigstens schien aus seinen Worten hervorzugehen, dass er Kao nicht getroffen hatte. Als Ci vor ihm niederkniete, zog der Meister ihn energisch wieder hoch.
    »Bedanke dich nicht dafür. Du wirst es dir jeden Tag neu verdienen müssen.«
    »Ihr werdet es nicht bereuen, werter Herr.«
    »Das hoffe ich, mein Junge. Das hoffe ich.«
    * * *
    Im Traditionsreichen Saal der Debatten, einem prächtigen, lindenholzgetäfelten Raum, in dem sonst die Streitgesprächeund Prüfungen stattfanden, lernte Ci seine künftigen Mitstudenten kennen. Wie üblich wartete eine einschüchternde Versammlung von Professoren und Schülern der verschiedenen Disziplinen darauf, den neuen Anwärter zu begutachten und ihre Einwände vorzubringen. Unter den Blicken Hunderter Augenpaare stand Ci in der Mitte des Saales und versuchte, das Zittern seiner Hände zu verbergen.
    Durch feierliches Schweigen schritt Ming zu dem alten hölzernen Podium an der Stirnseite des Raumes, stieg die Stufen hinauf und verneigte sich vor den Anwesenden zum Dank für ihr Kommen. Dann berichtete er von der zufälligen Begegnung auf dem Friedhof, bei der er Cis überraschendes Talent entdeckt habe, seine einzigartige Gabe des Totenlesens, die Ming als eine unbegreifliche Mischung aus Magie, Wunderheilung und Wissen beschrieb. Die primitive Erscheinung des Neulings, seine rauen Manieren könne man vielleicht, und er betonte dieses »vielleicht«, verfeinern, bis sie funkelten wie ein geschliffener Edelstein. Deshalb bitte er den versammelten Lehrkörper darum, den freien Studienplatz probeweise an Ci zu vergeben, damit er die Möglichkeit habe, die in ihm schlummernden Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
    Als die Versammlung Ming über die Herkunft des Antragstellers befragte, wiederholte der Lehrmeister zu Cis Erstaunen das Märchen von dem Unfall, der dem Jungen das Gedächtnis geraubt habe, und erwähnte nebenbei seine Tätigkeiten als Totengräber, Schlachthofarbeiter und Hellseher.
    Nachdem die Vorstellung abgeschlossen war, überließ Ming Ci das Podium. Jetzt waren die Professoren an der Reihe. Ci suchte unter all diesen fremden Menschen eine freundliche Miene, doch begegnete er einem Meer aus versteinerten Gesichtern. Die Ersten befragten ihn über seineKenntnisse der klassischen Autoren, eine zweite Gruppe über die Gesetze, andere über die Dichtkunst. Dann, als es darum ging, Einwände vorzubringen, ergriff ein dünner Professor mit ungeheuer buschigen Augenbrauen das Wort.
    »Von der Kunstfertigkeit deiner Vorhersagen geblendet, hat unser ehrenwerter Kollege Ming nicht gezögert, dich in jeder Hinsicht zu loben. Und selbstverständlich liegt mir nichts ferner, als ihn dafür zu tadeln.« Er machte eine nachdenkliche Pause. »Manchmal ist es schwer, zwischen dem Leuchten des Goldes und dem Glanz des Messings zu unterscheiden. Doch offenbar hat ihn die eine zutreffende Interpretation zu der Annahme verführt, er habe ein besonderes Wesen vor sich, ein Talent, das sich ohne weiteres jenen zugesellen könne, die ihr ganzes Leben dem Studium gewidmet haben. Doch wie du wissen solltest, erfordern die Verbrechensaufklärung und die anschließende Rechtsprechung einen Ansatz, der über die bloßen Fragen der Medizin nach dem Wer und dem Wie hinausgeht. Die Wahrheit kommt erst zum Vorschein, wenn man die Motive hinter einer Tat begreift, die persönlichen Sorgen, Verhältnisse, Gründe … Etwas, das man weder in den Wunden noch in den inneren Organen findet. Und dafür braucht man Leute, die mit Kunst, Malerei und Literatur erzogen worden sind.«
    Wortlos betrachtete Ci den Professor, der soeben seine Einwände vorgebracht hatte. Er räumte ein, dass der Gelehrte zum Teil recht haben mochte, ihm widerstrebte jedoch seine verächtliche Haltung gegenüber der Medizin. Wenn die amtierenden Richter sich immer wieder als unfähig erwiesen, einen natürlichen von einem gewaltsamen Tod zu unterschieden, wie zum Henker sollten sie dann Gerechtigkeit üben? Darüber dachte er nach, bevor er antwortete.
    »Ehrenwerter Professor«, setzte er an. »Ich bin nicht hierhergekommen, um eine Schlacht zu gewinnen.Weder möchte ich das wenige, das ich weiß, hervorkehren, noch das große Können der Lehrer und Schüler dieser Akademie in Abrede stellen. Ich will einfach nur lernen. Das Wissen kennt keine

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