Der Totenleser
keinen Schlaf.In seinem Kopf wirbelten tausend Gedanken durcheinander: das Fehlen seiner Schwester, die furchtbaren Enthüllungen über seinen Vater, der geldgierige Xu, Kao mit seinem Köter, die Missgunst von Musterschüler Grauer Fuchs … Die Götter gaben ihm gerade die Chance seines Lebens, und da tauchte dieser von Ehrgeiz zerfressene Student auf, der sie ihm verderben wollte. Er suchte nach einem Mittel, um den Groll zu besänftigen, den er in Grauer Fuchs geweckt zu haben schien, aber es fiel ihm nichts ein. Endlich kam er zu dem Schluss, dass er die Sache mit Ming besprechen müsse. Bestimmt konnte der Meister ihm helfen, und das beruhigte ihn. Er war dabei einzuschlafen, als ihn ein zischelndes Geräusch aus dem Nachbarbett aufschreckte.
»He, Missgeburt!« Der Lange kicherte vor sich hin. »Das ist also dein Geheimnis, was? Du bist vielleicht schlau, aber hässlich wie eine Kakerlake.« Wieder kicherte er. »Es wundert mich nicht, dass du die Toten lesen kannst. Siehst ja selber aus wie eine verfaulte Leiche.«
Ci gab keine Antwort, biss nur die Zähne aufeinander und schloss die Lider. Innerlich vor Wut kochend, beschwor er sich, den Kerl zu ignorieren. Er hatte sich so an seine Narben gewöhnt, dass er vergessen hatte, wie schockierend sie auf andere Leute wirken konnten. Und obwohl er – der Aussage jener zufolge, die ihn kannten – ein hübsches Gesicht und ein offenes Lachen hatte, war es doch unbestreitbar, dass seine Brust und seine Hände verbrannten Stofffetzen glichen. Er hüllte sich in die Decke und presste seine Schläfe gegen den als Kopfkissen dienenden Stein, bis er den Druck in seinem Gehirn spürte. Dabei verfluchte er seine Gabe, die ihn daran hinderte, Schmerz zu empfinden, und dadurch eine traurige Verirrung der Natur aus ihm machte.
Aber noch bevor der Schlaf ihn langsam übermannte,dachte er, seine Verbrennungen könnten andererseits womöglich dazu beitragen, die Abneigung von Grauer Fuchs zu verringern. Und mit diesem Gedanken schlief er ein.
* * *
Die folgenden Tage vergingen in schwindelerregendem Tempo. Ci stand vor allen anderen auf und nutzte noch den letzten Lichtstrahl, um das tagsüber Gelernte zu wiederholen. Die seltenen Momente der Ruhe widmete er der Lektüre des Buches seines Vaters, wobei er versuchte, sich jedes Detail der Kapitel zur Kriminalität einzuprägen.
Wenn es der Unterricht erlaubte, begleitete er Ming bei seinen Besuchen in den Hospitälern der Stadt. Dort gab es reichlich Heiler, Kräuterkundige, Akupunktierer und Moxa-Therapeuten, aber trotz des unübersehbaren Bedarfs mangelte es an Chirurgen. Die konfuzianische Lehre verbot Eingriffe im Inneren des Körpers, und so beschränkte sich die Chirurgie auf unvermeidliche Fälle wie das Richten offener Brüche, das Nähen von Wunden oder die Amputation von Gliedmaßen. Im Gegensatz zur Mehrheit seiner Kollegen, welche die praktischen Ärzte verachteten, zeigte Ming ein außerordentliches Interesse für die neuere Medizin und beklagte sich bitter über die Schließung der Medizinischen Fakultät.
»Vor zwanzig Jahren wurde sie eröffnet, und schon hat man sie wieder geschlossen. Diese Traditionalisten vom Rektorat behaupten, die Chirurgie sei ein Rückschritt. Und dann stellen sie sich vor, dass unsere Richter Verbrecher mit Hilfe ihrer Kenntnisse in Literatur und Poesie überführen …«
Ci nickte. Er hatte das Privileg gehabt, vor ihrer Schließung an einigen herausragenden Veranstaltungen der Fakultätteilnehmen zu dürfen, und er gehörte zu den wenigen, die sie geschätzt hatten. Die meisten Studenten konzentrierten sich lieber auf die konfuzianischen Regeln, auf Kalligraphie und Dichtkunst, denn sie wussten, dass ihnen diese bei den Kaiserlichen Prüfungen mehr nützten. Als Richter hätten sie letztlich vor allem administrative Aufgaben zu erledigen, und wenn sie doch einmal mit einem Mord zu tun hätten, würden sie einen Fleischer oder einen Schlachthofarbeiter rufen, damit er ihnen seine Meinung sagte und die Leiche für sie reinigte.
Alles war neu für Ci, und es machte ihm große Freude, von Kommilitonen mit ähnlichen Interessen umgeben zu sein, wieder über Philosophie zu diskutieren oder die Riten zu pflegen. Ihn begeisterten die Untersuchungen an einem aus Holz geschnitzten anatomischen Modell ebenso wie die leidenschaftlichen juristischen Debatten. Kurzum, er war glücklich.
Jeden Tag lernte er etwas Neues, und zum Erstaunen seiner Mitstudenten konnte er bald unter Beweis
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