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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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erreichen.« Er deutete auf ein paar Studenten, die den Inhalt ihrer Bücher regelrecht verschlangen. »Und wenn sie sehen, dass du ihnen in die Quere kommst, werden sie dich zerfetzen wie ein Stück Papier.«
    Ci musste schlucken und nickte – wenngleich er bezweifelte, dass die Beweggründe dieser jungen Männer den seinen auch nur im Entferntesten ähnelten.
    Gegen Abend wurden sie zum Essen in den Salon der Aprikosen gerufen, einen Saal mit wunderbaren Seidenwänden, auf denen Landschaften mit Pavillons und Obstbäumen zu sehen waren. Als Ci den Speisesaal betrat, hatten die anderen Schüler sich schon im Kreis um kleine Korbtische gesetzt. Er staunte über die unzähligen Teller und Schalen mit Suppen, Soßen und Frittiertem und über die auf weiteren Tischen wartenden Platten mit Fisch und Früchten. Er suchte nach einem freien Platz, doch als er die erste Lücke fand, rutschten die Schüler auf und hinderten ihn daran, Platz zu nehmen. Am nächsten Tisch geschah das Gleiche. Beimvierten Versuch merkte er, dass diejenigen, die ihm das Hinsetzen verwehrten, den Zeichen von Grauer Fuchs folgten. Ci musterte ihn ungläubig. Der Lange hielt nicht nur seinem Blick stand, sondern provozierte ihn auch noch mit einem spöttischen Grinsen.
    Wenn er aufgab, wusste Ci, wäre er den Launen dieses Studenten für die weitere Zeit seines Aufenthalts an der Akademie ausgesetzt. Und er hatte nicht so viel durchlitten, um sich jetzt freiwillig in eine derartig missliche Lage zu begeben.
    Er ging also zu dem Tisch, an dem Grauer Fuchs saß, und bevor sie es verhindern konnten, stellte er den Fuß zwischen zwei Schüler, die Anstalten machten, zusammenzurücken, und erzwang sich eine Lücke. Als er sich niederlassen wollte, erhob Grauer Fuchs sich.
    »An diesem Tisch bist du nicht willkommen.«
    Ohne ihm Aufmerksamkeit zu schenken, setzte Ci sich hin, nahm eine Suppenschale und trank.
    »Hast du mich nicht gehört?«, brüllte Grauer Fuchs.
    »Ich habe dich gehört, du kannst normal mit mir reden.« Scheinbar genüsslich schlürfte Ci seine Suppe.
    »Dass du deinen eigenen Vater nicht kennst, bedeutet noch lange nicht, dass du es dir leisten kannst, meinen nicht zu kennen«, drohte der Grauhaarige.
    Ci stellte die Suppenschale zwischen die Teller und erhob sich langsam, ohne den Blick von seinem Gegenüber zu lösen. Wenn Blicke hätten töten können, wäre Grauer Fuchs zu Staub zerfallen.
    »Jetzt hör du mir mal zu«, forderte Ci ihn heraus. »Wenn du deine Zunge liebst, dann sorge dafür, dass sie nie wieder von meinem Vater spricht, oder du wirst dich in Zukunft mit Zeichen verständigen müssen.« Danach setzte er sich wieder hin und aß weiter, als wäre nichts geschehen.
    Mit zorngerötetem Gesicht starrte Grauer Fuchs ihn an. Dann drehte er sich wortlos um und verließ den Saal.
    Ci beglückwünschte sich zu diesem Ergebnis. Sein Gegner hatte einen Zusammenstoß provoziert, um ihn an seinem ersten Tag in der Akademie in Verruf zu bringen, und hatte sich nur selbst vor seinen Kommilitonen lächerlich gemacht. Und obwohl er wusste, dass Grauer Fuchs sich nicht mit einer Niederlage abfinden würde, würde es ihm doch schwerfallen, sich in aller Öffentlichkeit zu rächen.
    Mit Einbruch der Nacht nahm die Spannung zu. Der Schlafraum, den sie gemeinsam teilen mussten, war eine winzige Kammer, von den übrigen durch Papierwände getrennt, womit sich die Privatheit auf das Dämmerlicht der kleinen, von der Decke herabhängenden Lampen beschränkte. Die Zelle bot kaum genügend Platz, um zwei Matten, eine neben der anderen, zwei Tischchen und zwei Schränke zur Aufbewahrung von Kleidern, persönlichen Dingen und Büchern zu beherbergen. Ci sah, dass der Schrank seines Zimmergenossen von Seide überquoll wie der eines heiratsfähigen Mädchens. Es befand sich aber auch eine umfangreiche Sammlung prachtvoll gebundener Bücher darin. In seinem gab es nur Spinnweben. Er wischte sie mit der Hand beiseite und stellte das Buch seines Vaters in die Mitte des obersten Fachs. Dann kniete er sich hin und betete für seine Angehörigen unter den geringschätzigen Blicken von Grauer Fuchs, der sich gerade bettfertig machte. Ci zog sich ebenfalls aus, wobei er die Verbrennungen an seinem Oberkörper im Dunkeln zu verbergen suchte. Doch Grauer Fuchs entgingen sie nicht.
    Jeder legte sich auf sein Lager, dann herrschte Schweigen. Mit der Angst dessen, der die Nähe eines Tieres spürt, lauschte Ci auf den Atem seines Mitschülers. Er fand

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