Der Totenleser
hinüberging, der sie kurz davor angegriffen hatte, um ihm seinen Lohn auszuzahlen.
22
Als Ci im Dreck der Straße erwachte, schien die Sonne bereits auf die taufeuchten Dächer von Lin’an.
Das Lärmen der Passanten dröhnte in seinem noch schläfrigen Hirn wie tausendfacher Donner. Mühsam richtete er sich auf und sah sich verwirrt um, bis er über seinem Kopf die Werbetafel für den Palast der Lüste erkannte. Ein kalter Schauer machte ihn munter. Auf seiner Haut hatte er noch den Geschmack der sich über ihm windenden Blume . Wo war sie? Und wo waren Grauer Fuchs und seine Begleiter? Mit einem unguten Gefühl trat er, sehr langsam, den Rückweg zur Akademie an.
Kaum hatte er das Gebäude erreicht, teilte ihm der Wächter mit, dass Ming mehrere Male nach ihm gefragt habe. Offenbar hatte der Meister beschlossen, dass die Schüler, die in der Präfektur gewesen waren, ihre Ergebnisse im Traditionsreichen Saal der Debatten vor der versammelten Lehrerschaft präsentieren sollten.
»Sie tagen dort schon eine Weile, aber lass dir nicht einfallen, so hineinzugehen, sonst werfen sie dich in hohem Bogen wieder raus.«
Ci sah an sich hinunter. Seine Kleidung war mit Essensresten befleckt, und er stank nach Alkohol. Er fluchte über sein Pech und verstand noch immer nicht, warum Grauer Fuchs nicht auf ihn gewartet hatte. Rasch holte er eine Schüssel mit Wasser, um sich zu reinigen, und eilte damit in seine Unterkunft. Als er sich gewaschen und umgekleidet hatte, nahm er sein Bündel mit dem Bericht und stürzte hastig zurück zum Traditionsreichen Saal der Debatten. Bevor er den Raum betrat, wartete er einen Augenblick, bis sich sein Atem beruhigt hatte. Im Saal starrten ihn alle an. Schweigend setzte er sich und merkte, dass genau in diesem Moment der Vortrag seines Zimmergenossen begann.
Ci versuchte, mit den Augen Kontakt aufzunehmen, aber Grauer Fuchs wich seinem Blick aus. War er nervös? Ci stellte das Bündel zwischen seine Beine und hörte zu. In der Saalmitte trommelte Grauer Fuchs unterdessen mit den Fingern auf das kleine Pult, auf dem seine Ergebnisse lagen. Nachdem man ihm ein Zeichen gegeben hatte, bat er die Lehrer um ihre Erlaubnis und begann mit der Schilderung des allgemeinen Verfahrens, an das er sich während der Untersuchung gehalten hatte. Ci musste noch entscheiden, wie er mit seinem eigenen Bericht umgehen sollte. Deshalb öffnete er sein Bündel, um ihn ein letztes Mal durchzusehen. Doch zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass der Bericht nicht dort war, wo er ihn gelassen hatte. Er suchte immer noch danach, als im Saal seine eigenen Worte aus dem Mund des Grauhaarigen ertönten.
Ungläubig starrte er auf Grauer Fuchs. Seine Hände zitterten, während er das Bündel ausleerte, und sie zitterten nochstärker, als er das Manuskript schließlich ganz unten fand, zerknittert und nicht ordentlich gefaltet, wie er es hineingesteckt hatte. In ihm kochte das Blut.
Je weiter Grauer Fuchs in seiner Darlegung voranschritt, umso klarer erkannte Ci, in welchem Ausmaß er benutzt worden war. Die scheinbare Freundschaft des Musterschülers war bloß ein schmutziger Trick gewesen und der Alkohol das Mittel, ihn auszuhorchen. Ci hörte seine eigenen Worte ein ums andere Mal in seinem Kopf widerhallen und ihn daran erinnern,wie dumm er gewesen war,dass er einem Menschen vertraut hatte, der ihm jetzt heimtückisch in den Rücken fiel. Ging es für den Angeber nur darum, vor Ming zu glänzen, so konnte es für ihn eine lebenslange Strafe bedeuten.
Er hörte, wie sein Rivale die Unmöglichkeit eines Unfalls oder Selbstmordes erläuterte und ausschloss, dass der Tote den Krug hätte festhalten können. Grauer Fuchs eignete sich seine Entdeckung über die Todesursache an, indem er behauptete, er habe ein langes eisernes Stäbchen im linken Ohr des Opfers gefunden. Er entschuldigte sich dafür, dass er dies Ming bei der früheren Anhörung nicht gesagt habe, und begründete es mit dem Bedürfnis, seinen Fund zu schützen. Alles das las er ruhig aus einem Bericht vor, der eine exakte Kopie von Cis Bericht darstellte und den er dem Meister am Ende überreichte. Er hatte nichts ausgelassen, auch nicht den Beruf des Ermordeten.
Ci musste an sich halten, um sich nicht auf Grauer Fuchs zu stürzen und ihn zu verprügeln.
Und das Schlimmste war, dass er ihn nicht einmal anklagen konnte.Wenn er es tat, wäre es nicht nur schwierig zu beweisen, dass sein Kommilitone ihm den Bericht gestohlen hatte – und nicht
Weitere Kostenlose Bücher