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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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ihnen frech ihre Münzen abknöpften, brachten Ci zum Lachen wie schon lange nichts mehr. Sie bestellten Sesamgebäck und etwas Reisschnaps und tranken weiter, bis die Wörter zu stolpern begannen. Einen Moment lang schwiegen sie wie betäubt und ruhten sich aus.
    Mit einem Mal änderte sich der Tonfall von Grauer Fuchs. Er erzählte Ci von seiner Einsamkeit. Seit er klein war, habe ihn sein Vater auf die besten Schulen und Universitäten geschickt, wo er umgeben von Weisheit, aber fern der Liebe seiner Geschwister, den Küssen seiner Mutter oder den Geheimnissen eines echten Freundes aufgewachsen sei. Er habe gelernt, sich um seiner selbst willen zu mögen, aber auch, niemandem zu vertrauen. Sein Leben sei das eines schönenRassepferdes, eingesperrt in einen goldenen Stall und allzeit bereit, nach dem Ersten zu treten, der sich ihm näherte. Er hasse diese triste Existenz.
    Ci, der kaum noch die Augen offen halten konnte, bedauerte ihn.
    »Soll ich ehrlich sein?«, fragte Grauer Fuchs. »Ich habe mich dir gegenüber wie ein Fiesling benommen, weil ich in der Akademie wenigstens Mings Anerkennung hatte, bis du kamst. Wenigstens glaubte ich es. Jetzt sieht er nur noch deine Glanzleistungen … Bitte verzeih.«
    Ci wusste nicht, was er sagen sollte. Der Schnaps lähmte sein Gehirn.
    »Vergiss es«, murmelte er. »Ich bin nicht so toll.«
    »Doch, das bist du«, wiederholte Grauer Fuchs, den Kopf gesenkt. »Heute Morgen im Raum der Toten zum Beispiel hast du entdeckt, was keiner von uns gesehen hat.«
    »Ich?«
    »Die Sache, die du im Ohr dieses Kerls gefunden hast.Verdammt, was bin ich nur für eine eingebildete Null!«
    »Sag so was nicht. Jeder hätte es bemerken können.«
    »Nein. Ich nicht.« Dann tauchte er das Gesicht in eine weitere Schale Alkohol.
    Ci erkannte die Niederlage in seinen Augen, durchsuchte die Hosentasche und holte unbeholfen einen kleinen, metallisch glänzenden Stein heraus.
    »Schau dir das an«, sagte er und zeigte dem Grauhaarigen den Stein. Anschließend näherte er ihn langsam einer eisernen Schüssel, bis der Stein plötzlich wie durch Zauberei aus seiner Hand sprang, durch die Luft flog und an der Schüssel haften blieb. Die Augen des Langen wurden rund vor Staunen und traten fast aus ihren Höhlen, als er vergebens versuchte, ihn wieder zu lösen.
    »Aber …« Grauer Fuchs begriff nicht. »Ein Magnet?«
    »Ein Magnet«, bestätigte Ci, während er ihn abzog. »Wenn du einen gehabt hättest, hättest auch du das Stäbchen gefunden, das im Ohr des Toten steckte. Das Eisenstäbchen, mit dem dieser Strafverfolger ermordet wurde.«
    »Ermordet? Strafverfolger? Aber was sagst du da? Du bist wirklich ein Dämon, Ci.« Lebhafter geworden, nahm er den nächsten Schluck. »Und der Schnapskrug, den er in der Hand hielt, als man ihn fand, war demnach …«
    Ci sah sich um, bis er einen Alten entdeckte, der, einen Stock in den Händen, auf einem Diwan schlief.
    »Siehst du den Alten da? Er hält seinen Stock nicht fest.« Ci fielen die Augen zu. Nach einigen Sekunden öffnete er sie wieder und fuhr fort. »Der Stock liegt bloß ruhig in seinen Händen. Wenn ein Mensch stirbt, verlassen ihn mit dem letzten Atemzug all seine Kräfte. Erst wenn jemand einem Toten einen Krug in die Hand drückt und ihn festhält, bis die Leichenstarre eintritt …«
    »Ein Ablenkungsmanöver?«
    »Genau.« Schon fast unfähig, seine Gedanken zu artikulieren, leerte Ci seine Schale.
    »Du bist wahrhaftig ein Dämon.«
    Ci fiel keine Erwiderung ein. Der Schnaps benebelte zunehmend seinen Verstand. Er kam auf die Idee, einen Trinkspruch auszubringen.
    »Auf meinen neuen Freund«, sagte er.
    Grauer Fuchs hob seine Schale.
    »Auf meinen neuen Freund«, wiederholte er und winkte einen Kellner herbei, um mehr Schnaps zu bestellen, doch Ci lehnte ab. Er war kaum noch in der Lage, das Durcheinander aus Trinkschalen, Kunden und Tänzerinnen, das sich um ihn drehte, zu unterscheiden. Trotzdem schien ihm, als könnte erin diesem Strudel eine schlanke Gestalt ausmachen, die langsam auf ihn zukam. Unmittelbar vor seinem Gesicht glaubte er die flüchtige Schönheit zweier mandelförmiger Augen zu erkennen. Dann überflutete ihn die Feuchtigkeit begehrlicher Lippen und trug ihn an den Ort seiner Wünsche.
    Hätte Ci, statt sich den Liebkosungen hinzugeben, in diesem Moment den Blick gehoben, hätte er mit Verwunderung beobachten können, wie sein Kommilitone plötzlich seine Trunkenheit abschüttelte und festen Schrittes zu dem Mann

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