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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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und seine Freunde brüllten vor Lachen.
    Ci war es unangenehm, dass die Blumen ihre Plätze wechselten und sich neben ihn setzen. Trotzdem verspürte er mit Macht den Stachel des Begehrens. Seit langem hatte er keine Frau berührt. So lange, dass er die Zartheit ihrer Haut und die Liebkosung ihres Dufts beinahe vergessen hatte. Ihm schwanden die Sinne, aber das Eintreffen der Speisen lenkte ihn von anderen Begierden ab. Es waren so viele und so verschiedene, dass der Spruch zu stimmen schien, in Lin’an esse man alles, was fliege, außer den Kometen, alles, was schwimme, außer den Booten, und alles, was Beine habe, außer den Tischen. Auf den Tischtüchern stapelten sich kalte Vorspeisen aus gedämpften Schnecken mit Ingwer, Acht-Knospen-Pudding und Perlkrebsen und versuchten, sich gegen die ersten Gänge aus gebratenem Reis, Rippen mit Kastanien, gebratenen Austern auf Drachenzähnen und knusprigem Flussfisch zu behaupten. Auf einem Beistelltisch warteten Gewürzsoßen in mehreren Tiegeln darauf, dass sie an die Reihe kamen, um ihre digestive Wirkung zu entfalten. Der warme Reiswein ging von Schale zu Schale, und das Gelächter vervielfachte sich genauso schnell wie die Flecke auf den Hemden. Glücklich ließ Ci es sich schmecken, immer noch verblüfft über den Wandel seines Kommilitonen, der ihn pausenlos ermunterte, sich zu amüsieren.
    Ci brauchte keine Aufmunterung. Darum kümmerten sich schon die beiden Blumen .
    Als er zum ersten Mal die Hand einer der beiden zwischen seinen Beinen spürte, spie er den Schluck, den er gerade im Mund hatte, vor Schreck wieder aus. Beim zweiten Mal wollte er dem Mädchen gegenüber ehrlich sein. Er gestand ihr, dass ihn ihr Duft verzaubere und das Dunkelrotihrer Lippen ihn bis ins Innerste treffe, dass er aber arm wie eine Ratte sei und ihre Dienste nicht vergüten könne. Das schien die Blume jedoch nicht zu stören. Sanft neigte sie den Kopf, bis ihre Zunge seinen Hals berührte.
    Ein lustvolles Gefühl durchzuckte ihn, und er bekam Gänsehaut. Dabei hörte er das Lachen von Grauer Fuchs und die Rufe seiner vier Freunde, die ihn anfeuerten, das Mädchen zu begleiten.
    Ci konnte kaum noch denken. Die letzten Schalen Wein hatten ihn in eine nebelhafte Welt aus Zärtlichkeiten und Essenzen versetzt, von denen er in einen Mahlstrom ungekannter Genüsse hinabgezogen wurde. Gerade wollte er die Blume küssen, als er spürte, wie ihn jemand an der Schulter packte. Ihm war, als hörte er Protest.
    »Du sollst sie loslassen und dir eine andere suchen!«, wiederholte ein Mann mittleren Alters mit einem Spazierstock in der Hand undeutlich.
    »He, lass ihn in Ruhe!«, mischte sich Grauer Fuchs ein.
    Der Mann achtete nicht auf ihn. Er packte die Blume am Arm und zerrte daran, als wollte er ihn ihr ausreißen, wobei er sämtliche Teller hinunterfegte, die noch auf dem Tisch standen. Ci erhob sich, um dazwischenzutreten, doch bevor er etwas erreichen konnte, erhielt er mit dem Stock einen Schlag ins Gesicht, der ihn zu Boden warf. Als der Mann ihm einen weiteren Hieb versetzen wollte, stürzte Grauer Fuchs sich auf ihn und brachte ihn zu Fall. Sofort erschienen mehrere Bedienstete, um sie zu trennen.
    »Verdammter Säufer!«, brüllte Grauer Fuchs und wischte über die kleine Wunde, die er sich an einer Hand zugezogen hatte. »Sie sollten besser aufpassen, wen sie hier reinlassen.« Dann half er Ci beim Aufstehen. »Alles in Ordnung?«
    Ci begriff nicht ganz, was geschehen war, denn der Alkohollenkte seine schwerfälligen Bewegungen. Auf den Grauhaarigen gestützt, ließ er sich von ihm zu einem sauberen Tisch führen, der in einer ruhigen Ecke des Raumes stand. Die anderen Studenten zogen es vor, in der Nähe der Blumen zu bleiben.
    »Beim Erleuchteten! Dieser Blödmann hat uns fast den Abend verdorben. Soll ich die Kleine wieder herrufen?«
    »Nein, lass.« Um ihn drehte sich alles.
    »Sicher? Sie wirkt ziemlich erfahren, und ihre Füße sind reizend. Ich wette, sie zappelt wie ein frisch gefangener Fisch. Aber wenn du keine Lust hast, vergessen wir es. Schließlich sind wir hergekommen, um uns zu amüsieren.« Er machte einem Angestellten ein Zeichen, damit er ihnen neuen Wein brachte.
    Allmählich fühlte sich Ci wohl in Gesellschaft von Grauer Fuchs. Sein Zimmergenosse schien seine hochmütige Haltung abgelegt zu haben. Er plauderte und lachte, als wären sie die besten Freunde. Seine Kommentare über die Tattergreise, die sich inmitten der Tänzerinnen besabberten, während diese

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