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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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habe.‹« Er ahmte Cis Tonfall nach. »Das fand ich sympathisch. Hier.« Sein Zimmergenosse hielt ihm den Krug hin und lachte schallend.
    Ci nahm den Krug und trank einen Schluck, nur damit der Lange ihn in Ruhe ließ. Er spürte, wie ihm der Reisschnaps heiß durch die Kehle rann und im Magen brannte. So starke Getränke war er nicht gewöhnt.
    »Wunderbar!«, jubelte Grauer Fuchs. »Hör mal. Heute Abend will ich mit ein paar Kollegen im Palast der Lüste essen gehen und auf die Gesundheit des alten Ming anstoßen. Kommst du mit? Wir werden uns totlachen und feiern wie die Könige.«
    »Nein, danke. Ich möchte nicht, dass Ming davon erfährt …«
    »Und was, wenn er davon erfährt? Glaubst du etwa, wir sind seine Gefangenen? Ming ist bloß ein armer Griesgram, der nie zufrieden ist. Los, raff dich auf ! Wir werden jede Menge Spaß haben. Beim zweiten Gong erwarten wir dich unten im Garten an der Fontäne.« Er ließ den Schnaps nebenCi auf dem Boden stehen und kehrte vor sich hin summend dahin zurück, von wo er gekommen war.
    Ci hob den Krug auf und sah hinein. Die Flüssigkeit schwappte im Dunkeln wie seine eigene Seele. Den ganzen Nachmittag hatte er mit der Suche nach einer unmöglichen Lösung vergeudet, und noch immer wusste er nicht, was er tun sollte. Wenn er seine Erkenntnisse enthüllte, würde er Mings Vertrauen wiedergewinnen, sich aber zugleich in den Fokus der Justiz begeben. Wenn er schwieg, verlor er die Chance, in ein Richteramt aufzusteigen, von der er so lange geträumt hatte. Er setzte den Krug an die Lippen und trank wieder. Stück um Stück trübte sich sein Verstand, und seine Probleme begannen sich zu verflüchtigen.
    Der Ton des zweiten Gongs überraschte Ci in der Bibliothek. Er konnte nicht mehr klar denken, das musste er aber auch gar nicht. Neben ihm stand der leere Schnapskrug. Er fragte sich, wie lange Ming ihn wohl noch als Gast an der Akademie behielt. Wie lange würde es dauern, bis er ihn zurück zum Friedhof schickte? Ach, was scherte ihn das!
    Aus dem Garten vernahm er Gelächter. Zögernd stand er auf und ging die Treppe hinunter. Draußen am Brunnen umringten vier Studenten, jeder mit einem Krug in der Hand, den Grauhaarigen. Ci betrachtete sie einen Moment. Sie wirkten gutgelaunt, doch er konnte sich nicht entschließen. Erst als er sich abwandte, um die Schlafräume anzusteuern, bemerkte Grauer Fuchs ihn. Ci hörte seine Stimme, die ihn aufforderte, näher zu kommen. Sie klang freundlich und werbend. Unentschieden blieb Ci stehen. Es reizte ihn, weiterzutrinken, doch etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass das keine gute Idee war. Im selben Augenblick trat Grauer Fuchs heran, lächelte, legte ihm den Arm um die Schulter und beredete ihn von neuem, sie zu begleiten. Sie würdensich prächtig amüsieren. Am Ende dachte Ci, dass er, wenn sowieso schon alles schiefging, wenigstens nicht die Gelegenheit verpassen wollte, sich mit Grauer Fuchs anzufreunden.
    * * *
    Im Palast der Lüste begegnete Ci den schönsten Frauen, die er je gesehen hatte.
    Kaum hatten sie das Gebäude betreten, wurde Grauer Fuchs von einem aufgekratzten Diener begrüßt, der ihm mit viel Wichtigtuerei im Gedränge der reichen Kaufleute und Universitätsdozenten einen Platz zuwies. Ermutigt von den Klängen der Lauten und Zithern, riefen die Gäste den grell geschminkten Tänzerinnen, die um sie herumwirbelten wie Seerosen in einem Strudel, allerlei Frivolitäten zu. Ci sah, wie die Mädchen ihre Kleider lüpften und ihre kleinen, in Gamaschen steckenden Füße entblößten, was jedes Mal Begeisterungsstürme auslöste und die Gier der Männer weiter anheizte. Grauer Fuchs schien sich in dem Spektakel wie zu Hause zu fühlen, er schwatzte mit Freunden, Bekannten und Kellnern, als wäre er selbst der Bordellbesitzer. Bald begann ein Schwarm Diener, den Tisch mit allen Arten von Speisen und alkoholischen Getränken zu beladen. Außerdem verlangte Grauer Fuchs ein Paar Blumen , die ihnen Gesellschaft leisten sollten. Während er die Flaschen austeilte, setzten sich zwei lächelnde Schönheiten zu den sechs jungen Männern. Acht war die perfekte Zahl.
    »Sie gefallen dir, oder?« Grauer Fuchs grinste Ci an und streichelte dabei das Bein eines der Mädchen. »Gebt euch Mühe«, sagte er zu den Blumen , als würde er sie seit Jahren kennen. »Das hier ist Ci, der Totenleser. Mein neuer Zimmergenosse. Er kann mit den Geistern reden. Seid also süßwie Honig, sonst verwandelt er euch in Eselinnen.« Grauer Fuchs

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