Der Totenleser
Moment an die Kehle springen konnte.
Ming hatte die Sache mit dem Bericht nicht wieder erwähnt. Trotzdem fand er keine Ruhe. Nachmittags arbeitete er nach dem Rhetorikunterricht an einem Text, der, wie er seine Mitschüler glauben machte, den Betrug von Grauer Fuchs beweisen sollte. In der Hoffnung, dass die Informationdie Ohren seines Rivalen erreichte, hatte er damit begonnen, sie zu streuen. Früher oder später würde Grauer Fuchs den Köder schlucken und der Versuchung erliegen, den neuen Bericht zu stehlen, genauso wie er es mit dem anderen getan hatte.
Als er mit allem fertig war, verbreitete er das Gerücht, wonach er den Bericht am nächsten Tag im Rat vortragen und den Dieb entlarven werde. Dann suchte er Ming auf.
Als Grauer Fuchs gegen Abend die gemeinsame Kammer betrat, wartete Ci bereits auf ihn. Grauer Fuchs senkte die Stirn und warf sich wie ohnmächtig aufs Bett. Ci war vollkommen klar, dass er bloß vorgab zu schlafen. Nach einer Weile stand Ci auf, steckte den Bericht in seinen Beutel, vergewisserte sich, dass Grauer Fuchs ihn beobachtete, und verstaute den Beutel in seinem Schrank. Dann wartete er auf den Gong, der die Stunde der Stille ankündigte, und verließ den Raum.
Zu diesem Zeitpunkt stand Ming bereits im Korridor Wache, worum Ci ihn gebeten hatte.
»Ich weiß nicht, wie es dir gelungen ist, mich zu diesem Unsinn zu überreden«, brummte der Meister.
»Haltet Euch nur versteckt und wartet ab.« Ci verneigte sich.
So wie Ci verbarg auch Ming sich hinter einer Säule. Das Licht der einzigen Lampe flackerte in der Ferne, als wäre sie Teil der Verschwörung. Es verging kaum eine Minute, da konnten sie beobachten, wie der Grauhaarige den Kopf aus der Tür streckte und sich nach allen Seiten umsah, bevor er wieder im Zimmer verschwand. Wenig später hörte man durch die Stille den Schrank quietschen.
»Er wagt es!«, flüsterte Ming aufgeregt.
Ci schüttelte den Kopf und signalisierte ihm, noch zu warten. Er zählte bis zehn.
»Jetzt!«, rief er.
Sie liefen zu der Schlafkammer, drangen durch die Tür und überraschten Grauer Fuchs mit der Hand in Cis Beutel. Als er sich entdeckt sah, verzerrte er sein Gesicht.
»Du!«, drohte er Ci.
Ohne ihnen Zeit zur Abwehr zu lassen, stürzte der Graue sich unter Gebrüll auf Ci und brachte ihn zu Fall. Ineinander verkeilt rollten sie über den Boden und stießen die Schemel um. Ming versuchte sie zu trennen, doch die beiden jungen Männer gebärdeten sich wie wilde Tiere, die sich in Stücke reißen wollten. Grauer Fuchs versetzte Ci einen Fausthieb in den Magen, ohne dass sein Gegner eine Reaktion zeigte. Ein zweites Mal schlug er mit aller Kraft zu, aber Ci blieb aufrecht, was den Angreifer verunsicherte.
Ci nutzte die Verblüffung von Grauer Fuchs – seine Faust landete einen Treffer im Gesicht des Kommilitonen. »Wolltest du nicht meine Beweisführung?« Er verpasste ihm einen weiteren Schlag, der seine Lippen zerplatzen ließ. »Hier hast du sie!« Ein dritter Hieb ließ den Langen rückwärts fallen, noch bevor Ming ihn auffangen konnte.
Keuchend stand Ci auf,während Grauer Fuchs mit blutverschmiertem Gesicht und schimpfend am Boden liegen blieb.
* * *
Am nächsten Tag begegneten sich Ci und Grauer Fuchs, als der Grauhaarige die Akademie verließ. Niemand war zu seiner Verabschiedung gekommen, doch vor dem Tor wurde er von einem ganzen Gefolge erwartet, das in teuerstes Tuch gewandet war. Schon beim Frühstück war das Gerücht umgegangen,Grauer Fuchs werde die freie Stelle in der Präfektur erhalten.
Zu seiner Überraschung lächelte der Grauhaarige ihn an.
»Du weißt bestimmt, dass ich gehe.«
»Wie schade«, antwortete Ci ironisch.
Grauer Fuchs beugte sich dicht an sein Ohr.
»Vergiss mich nicht, denn auch ich werde dich nicht vergessen«, zischte er und entfernte sich mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen.
* * *
Am selben Nachmittag fand eine dringende Sitzung des Lehrkörpers statt, um über Cis Ausschluss zu beraten.
Die einberufenden Professoren führten an, dass Mings Prophezeiungen über Cis außerordentliche Fähigkeiten, unabhängig davon, ob sie zutrafen, in keiner Weise sein impulsives Verhalten rechtfertigten. Durch den Platz, den er okkupiere, schmälere er nicht allein das Ansehen, sondern auch die Einkünfte der Akademie. Und mit seinem jüngsten Gewaltausbruch habe er die großzügige Schenkung gefährdet, die die Familie von Grauer Fuchs der Einrichtung alljährlich mache.
»Tatsächlich
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