Der Totenleser
mussten wir seine Kandidatur für das Richteramt garantieren, um diese Katastrophe zu verhindern.«
Ming widersprach. Er hob noch einmal hervor, dass Ci nachgewiesenermaßen der Autor des Berichts sei, den Grauer Fuchs betrügerisch entwendet und benutzt habe. Doch seine Gegner erinnerten ihn, dass Ci selbst bei der Vorstellung des Berichts die Autorschaft seines Kommilitonen akzeptiert habe und dass weder seine späteren Erklärungen noch das Verhalten, mit dem er sie habe untermauern wollen,akzeptiert werden könnten. Die Mehrheit der Versammelten sprach sich dafür aus, dass Ci die Akademie unverzüglich verlassen müsse.
Ming gab nicht auf. Er sei überzeugt, dass Cis Anwesenheit ihnen früher oder später mehr eintragen werde als die Qian, die der Vater irgendeines Hochstaplers zahlte. Aus diesem Grund und um der Akademie Ausgaben zu sparen, schlug er seinen Kollegen vor, den jungen Mann zu seinem persönlichen Assistenten zu machen.
Ein erstauntes Raunen breitete sich unter den Ratsmitgliedern aus.Yu, einer der entschiedensten Gegner, beschuldigte Ci, genau so ein Schwindler zu sein wie jene Händler, die statt Seide Papier verkauften, oder jene nichtswürdigen Scharlatane, die unbrauchbare Heilmittel anpriesen. Er nannte Ming einen Exzentriker und bezweifelte, dass sein Interesse allein altruistischer Natur sei. Nicht nur er frage sich mittlerweile, ob nicht unbotmäßige Hintergedanken in Mings Verhältnis zu Ci eine Rolle spielten. Ming senkte den Kopf und schwieg. Seit einiger Zeit bemühte sich eine Gruppe Neider unter Führung von Professor Yu um seine Amtsenthebung. Gerade wollte er ihm antworten, als sich das älteste Kollegiumsmitglied erhob.
»Diese Unterstellung ist vollkommen unangebracht.« Seine Stimme strahlte Autorität aus. »Meister Ming ist nicht nur Direktor unserer Akademie, sondern ein ausgezeichneter Lehrer von unbestreitbarer Moral. Er hat stets zu unserer Zufriedenheit gearbeitet, und das Gerede über seine Vorlieben oder das, was er außerhalb der Einrichtung tut, gehen nur ihn und seine Familie etwas an.«
Während sich sämtliche Augen auf Ming richteten, herrschte im Saal angespanntes Schweigen. Der Meister bat um das Wort, und der Älteste erteilte es ihm.
»Es ist nicht mein Ruf, der hier zur Debatte steht, sondern Cis«, forderte er den Lehrer, der ihn angegriffen hatte, heraus. »Vom ersten Tag an hat dieser junge Mann seine Aufgaben voller Hingabe erfüllt. In den Monaten, die er an der Akademie verbracht hat, ist er öfter früh aufgestanden und hat mehr geputzt, studiert und gelernt als viele seiner Kommilitonen in ihrem ganzen Leben. Und wenn es Leute gibt, die das nicht sehen wollen oder, was noch schlimmer ist, die aus Eigennutz falsche Argumente gegen mich ins Feld führen, so irren sie. Ci mag ein ungehobelter und impulsiver Student sein, aber er ist auch ein Schüler mit einem seltenen Talent. Und obwohl wir sein Verhalten manchmal missbilligen müssen, verdient er doch zugleich unsere Großzügigkeit.«
»Unsere Großzügigkeit hat er bereits erfahren, als er aufgenommen wurde«, merkte der Älteste an.
»Wenn ihr ihm schon nicht vertraut, dann vertraut wenigstens mir«, sagte Ming.
* * *
Mit Ausnahme der vier Verleumder, die nach Mings Posten strebten, kam der Rest des Kollegiums zu der Übereinkunft, dass Ci unter der strengen Aufsicht des Direktors in der Akademie verbleiben dürfe. Allerdings vereinbarten sie auch, dass jeder Verstoß, der die Einrichtung, und sei es auch nur geringfügig, in Misskredit brächte, zum sofortigen Ausschluss führen werde, zum Ausschluss des jungen Mannes und des Meisters selbst.
Ci konnte sein Glück kaum fassen, als Ming ihn über das Ergebnis informierte. Der Professor erläuterte ihm in groben Zügen, dass er fortan kein einfacher Student mehr sei, sondern sein Assistent, und daher die Kammer, die er mit GrauerFuchs geteilt habe, verlassen und in seine Privaträume im ersten Stock ziehen werde, wo er jederzeit seine Bibliothek benutzen könne. Vormittags werde er weiter gemeinsam mit den anderen Schülern den Unterricht besuchen, nachmittags dagegen ihn bei seinen Forschungen unterstützen. Ci war von diesem Vorschlag überrascht, und obwohl er nicht verstand, warum Ming so sehr auf ihn setzte, stellte er lieber keine Fragen.
Von da an verwandelte die Akademie sich für Ci in einen paradiesischen Ort. Jeden Morgen war er der Erste, der zu den Vorträgen über die klassischen Autoren erschien, und der Letzte, der sie
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