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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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umgekehrt, wie Grauer Fuchs mit Sicherheit behaupten würde –, sondern er müsste, falls ihm der Beweisgelang, außerdem erklären, wie er herausgefunden hatte, dass der Tote Strafverfolger war. Zum Glück war diese Erklärung das Einzige, was er nicht in den Originalbericht aufgenommen hatte.
    Und deshalb wusste der Grauhaarige nicht, was er sagen sollte, als Ming ihn zu diesem Punkt befragte.
    »Ich habe den Beruf aus der seltsamen und mehrfach wiederholten Bitte um Vertraulichkeit abgeleitet«, antwortete er unsicher.
    »Abgeleitet? Müsstest du nicht eher sagen: abgeschrieben?«, fragte ihn der Meister.
    Grauer Fuchs zog die Brauen hoch und errötete.
    »Ich verstehe nicht, was Ihr meint.«
    »Dann kann Ci es uns vielleicht erklären.« Er machte ihm ein Zeichen, sich zu erheben.
    Ci gehorchte, auch wenn er vorher noch schnell seinen Bericht zusammenknüllte und im Beutel verstaute. Als er neben den Angeber trat, sah er die Furcht in dessen Blick. Er hatte keinen Zweifel, dass Ming etwas ahnte. Schweigend überlegte er, wie er diese Situation lösen sollte.
    »Wir warten«, drängte ihn der Meister.
    »Ich weiß nicht ganz, worauf«, sagte Ci schließlich.
    Die Antwort irritierte Ming.
    »Du hast also nichts einzuwenden?« Seine Stimme klang gereizt.
    »Nein, verehrungswürdiger Meister.«
    »Komm schon, Ci! Verkaufe mich nicht für dumm. Hast du nicht mal eine Meinung?«
    Ci blickte den Grauhaarigen an. Er konnte ihn Speichel schlucken sehen. Bevor er den Mund öffnete, wog er seine Antwort gut ab.
    »Ich meine, dass einer von uns exzellente Arbeit geleistethat«, sagte er dann und wies auf seinen Zimmergenossen. »Wir anderen können Grauer Fuchs also nur beglückwünschen und weiter fleißig lernen.« Und ohne Mings Erlaubnis abzuwarten, stieg er vom Podium und verließ mit bitterer Miene den Traditionsreichen Saal der Debatten.
    * * *
    Tausendmal verfluchte Ci sich für seine Dummheit, und noch tausendmal, weil er so feige gewesen war.
    Zu gern hätte er seinem Kommilitonen die Fäuste ins Gesicht gehämmert, doch das würde nur dazu führen, dass er von der Akademie flog und sein Gegenspieler triumphierte. Und das durfte er nicht zulassen. Er ging in die Bibliothek, suchte sich eine stille Ecke und holte den zerknitterten Bericht aus seinem Bündel, um irgendein Detail zu finden, das den Betrüger bloßstellte. Etwas, das Grauer Fuchs entlarvte und ihn selbst nicht kompromittierte. Er las schon eine Weile, als jemand von hinten an ihn herantrat. Ci schrak hoch und erkannte Ming. Kopfschüttelnd setzte sich der Meister vor ihn hin.
    »Du lässt mir keine Alternative. Wenn du dich nicht änderst, muss ich dich von der Akademie werfen«, sagte er endlich. »Was ist eigentlich los mit dir, Junge? Warum hast du nicht dagegengehalten?«
    »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.« Ci ließ den Bericht im Ärmel verschwinden, aber Ming merkte es.
    »Was versteckst du da? Zeig her.« Er stand auf und entriss Ci das Schriftstück. Während er es rasch überflog, hellte sich seine Miene auf. »Wie ich es mir dachte«, murmelte er und hob den Blick. »Grauer Fuchs hätte nie einen derartigen Bericht verfasst. Glaubst du, ich kenne seinen Stil nicht?« Ermachte eine Pause und schaute Ci abwartend an. »Bei allen Göttern! Du bist hier, weil ich dir vertraut habe. Jetzt beweis du mir dein Vertrauen und erzähle mir, was passiert ist. Du bist nicht allein auf der Welt, Ci.«
    Ci schwieg. Was wusste dieser Mann von ihm? Wie sollte er ihm begreiflich machen, dass er nicht nur die Chance vertan hatte, seinen Traum zu verwirklichen, sondern auch erneut ins Visier der Justiz geraten war? In welcher Weise konnte er ihm erklären, dass alle, denen er jemals vertraut hatte, ihn verraten hatten, angefangen bei seinem eigenen Vater? Was konnte er denn wissen von Vertrauen?
    * * *
    In den folgenden Tagen versuchte Ci, Ming und Grauer Fuchs aus dem Weg zu gehen. War das beim Ersten schon schwer, so erwies es sich beim Zweiten als unmöglich, denn beide teilten weiterhin dieselbe Schlafkammer. Zum Glück hatte sein Mitbewohner sich für eine ähnliche Strategie entschieden wie Ci und hielt sich, so gut es ging, von ihm fern. Tatsächlich besuchte er andere Unterrichtsstunden, sah weg, wenn sie sich begegneten, und nahm während der Mahlzeiten Platz an den am weitesten entfernten Tischen. Ci vermutete, dass Grauer Fuchs irgendeine Reaktion fürchtete, was ihn in seinen Augen zu einem in die Enge getriebenen Raubtier machte, das ihm jeden

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