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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Nebel liegt.«
    »Darüber hat man mich nicht informiert.« Kan warf seinem Assistenten einen vorwurfsvollen Blick zu. »Und in der Tat, erscheint mir seltsam, was Ihr sagt.« Kan sah Ci ungläubig an, so als hätte man ihm gesagt, der Junge könne Tote zum Leben erwecken. »Nun gut, aber beeilt Euch. Gibt es noch etwas hinzuzufügen?«
    »Wir werden sehen.« Ci trat vor und holte ein Messer hervor.
    Zum Erstaunen aller Anwesenden steckte Ci das Messer in den Bauch der Frau. Die Hebamme versuchte, ihn zurückzuhalten, doch Ci ließ sich nicht abbringen.
    »Versteht Ihr jetzt?«
    »Was gibt es da zu verstehen?«, brachte Kan entsetzt heraus.
    »Dass dieser Leichnam der eines Mannes ist, nicht der einer Frau.«
24
    Ein Raunen ging durch die Gruppe der Versammelten. Als Kans Mitarbeiter bestätigten, dass unter den Darmschlingen des Leichnams keine weiblichen Organe lagen, sondern die Kastanie der Männlichkeit, verstummte das Mitglied des gefürchteten Strafrats. Langsam ließ er sich auf einen Stuhl sinken und bat Ci, fortzufahren.
    Mit ruhiger Stimme bekräftigte Ci, dass der Tod durch eine Verletzung der Lunge eingetreten war. Doch waren die Ränder des Kraters im Oberkörper nicht zusammengezogen und rötlich verhärtet, wie es geschah, wenn das Fleisch noch lebendig geschnitten wurde. Ebenso wenig waren sie es an den Enden der Beine oder am Hals, auch nicht an dem Schnitt, mit dem das Geschlechtsteil abgetrennt worden war. Dennoch zeigte Ci sich überzeugt davon, dass die Todesursache in der Lunge zu suchen war, sie musste mit irgendeinem spitzen Objekt durchbohrt worden sein.
    Dabei schloss Ci die Einwirkung eines Tieres aus, da nirgends Krallen- oder Bissspuren zu erkennen waren, nicht der kleinste Kratzer fand sich im Umfeld der Wunde. Und obwohl die Rippen gebrochen waren, waren die Brüche sauber, beinahe ordentlich, als habe man sie mit einer Art Zange herbeigeführt. Unabhängig davon, wie sie entstanden waren, schien es, als habe der Mörder etwas im Innern des Körpers gesucht. Etwas, das er anscheinend auch gefunden hatte.
    »Und was sollte das gewesen sein?«, fragte Kan skeptisch.
    »Das entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht die Spitze eines Pfeils, der abgebrochen ist, als man ihn herausziehen wollte. Vielleicht war sie aus einem wertvollen Metall,das ein identifizierendes Merkmal aufwies. Ich weiß es nicht, aber sicher ist, dass der Mörder alle Spuren vernichtet hat, die ihn belasten könnten. Wofür ja auch die Amputationen sprechen … Mit seiner sprichwörtlichen Besonnenheit hat Meister Ming auf eine Frau aus der Oberschicht gesetzt, deren zu Miniaturen verformte Füße ihre Stellung offenbart hätten. Und genau das war die falsche Spur, auf die der Mörder uns locken wollte. Denn was hätten wir sonst von einem weichen weiblichen Körper denken sollen, mit Brüsten und femininen Formen? Der Mörder hat alles verstümmelt, was auf die wahre Identität der Leiche hindeuten konnte. Er hat den Kopf abgetrennt und die großen Füße, die ihn als Mann verraten hätten, um uns glauben zu machen, es handle sich um eine adlige Frau. Er hat Penis und Hoden entfernt, die femininen Brüste ließ er unangetastet. Und sicher wäre der Verschleierungsversuch erfolgreich gewesen, hätten nicht die überproportional großen, wenn auch feinen Hände der Leiche eine andere Sprache gesprochen.«
    »Aber dann verstehe ich nicht …« Kan schüttelte den Kopf. »Penis … Brüste … wenn es sich weder um das eine noch um das andere Geschlecht handelt, was für ein Monster haben wir vor uns?«
    »Kein Monster, ehrenwerter Rat. Nur einen bedauernswerten Kaiserlichen Eunuchen.«
    Kan schnaufte wie ein Büffel. Obwohl nicht alle Eunuchen von derart weiblicher Erscheinung waren, war es am Hof durchaus bekannt, dass es sie gab. Es handelte sich um jene, deren Kastration vor der Pubertät stattgefunden hatte. Kan verfluchte sich dafür, dass er selbst nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte. Wenn es etwas gab, das er noch mehr hasste als Auflehnung, war es, wenn sich jemand als klüger herausstellte als er selbst.
    »Ihr könnt gehen«, stieß er ärgerlich hervor. »Das war alles.«
    * * *
    Auf dem Rückweg in die Akademie stellte Ming Ci zur Rede.
    »Wie sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, ich verstehe nicht, wie du darauf kommen konntest.«
    »Es war während Eurer Ausführungen«, antwortete Ci. »Als Ihr erwähntet, dass es einfach wäre, eine Frau an ihren deformierten Füßen zu erkennen, und der Mörder

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