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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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sie deshalb entfernt hatte.«
    Ming sah ihn verständnislos an.
    »Wie Ihr selbst sagtet, ist das Einbinden der Füße ein relativ moderner Brauch und nur in der höheren Gesellschaft verbreitet. Etwas, das Kan selbstverständlich weiß. Darum war zu vermuten, dass er bereits alle wohlhabenden Familien über das Verschwinden einer Angehörigen befragt hatte. Dass er danach Euch um Rat bat, lässt nur den Schluss zu, dass er bei seinen Untersuchungen nicht weitergekommen war.«
    »Aber das mit dem Eunuchen …«
    »Es war eine Eingebung. Kurz nach meiner Ankunft in Lin’an hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, bei der Entmannung eines kleinen Jungen dabei zu sein, dessen Eltern ihn zum Kaiserlichen Eunuchen machen wollten. Der Junge verblutete, ohne dass ich etwas für ihn tun konnte. Ich sehe es noch vor mir, als wäre es gestern gewesen …«
    * * *
    Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Kurz bevor sie die Akademie erreichten, teilte Ming Ci mit, dass er wegfahren musste. Er sagte, er werde zur Nacht zurück sein, und dann würden sie reden. Ci zog es vor, nichts zu fragen. Er verabschiedete sich und trat alleine auf das Gebäude zu, in der Überzeugung, dass dies das letzte Mal war, dass er diese Türen durchschritt. Als er gerade eintreten wollte, stürzte sich der Hausdiener, der die Eingangstür bewachte, auf ihn und zerrte ihn wortlos in den Garten.
    »Ein seltsamer Mann war hier, ein Säufer, wenn du mich fragst … Er behauptete, er sei ein Freund von dir. Als ich ihm sagte, dass du nicht da bist, brüllte er herum, ich habe ihn rausgeworfen. Er drohte, dass es mir noch leidtun werde, und erwähnte irgendeine Belohnung … und dass er bei Sonnenuntergang wiederkommen wollte. Ich dachte, das solltest du wissen. Ich mag dich, Junge, und ich rate dir ernsthaft, die Gesellschaft gewisser Personen zu meiden. Wenn die Professoren dich mit diesem Mann sehen, werden sie nicht begeistert sein.«
    Ci wurde leichenblass. Xu hatte ihn gefunden, und er schien bereit, seine Drohung wahr zu machen. Er musste schnellstmöglich seine Sachen packen und die Stadt verlassen. Er dankte dem Mann und lief rasch in sein Zimmer.
    Nachdem er sein Bündel geschnürt hatte, ging er ein letztes Mal durch die Gänge der Akademie. Er betrachtete die leeren Hörsäle, die aussahen, als habe er sie angesteckt mit seiner Schwermut, wie stumme Zeugen einer sinnlosen Illusion wirkten sie, eines Traums, aus dem er nun aufwachen musste. Als er die Bibliothek passierte, sah er die Bücher auf den Pulten liegen und ungeduldig auf ihre Besitzer warten. All das Wissen, das in ihnen gesammelt war und an dem er nun nicht mehr teilhaben durfte! Niedergeschlagenwarf er sich den Sack über die Schulter und verließ das Gebäude.
    Ziellos lief er die Straße hinunter. Er würde so lange gehen, bis er einen Karren oder ein Boot fand, das ihn weit fort brachte. Gedankenversunken marschierte er eine Weile, bis er zu seiner Überraschung mit einem Kaiserlichen Soldaten zusammenstieß, der von drei weiteren, ebenfalls schwerbewaffneten, begleitet wurde.
    »Bist du der Totenleser?«, erkundigte sich der Soldat knapp.
    »Ja … So nennt man mich«, gab Ci unsicher zurück, als er unter den Soldaten einen wiedererkannte, der während der Untersuchung am Hof zugegen gewesen war.
    »Wir haben den Befehl, dich mitzunehmen.«
    Ci leistete keinen Widerstand.
    Sie brachten ihn zu Fuß in die Provinzpräfektur. Dort warfen sie ihm ohne ein Wort der Erklärung eine Kapuze über und luden ihn auf einen Maultierkarren, der ihn kreuz und quer durch die Straßen von Lin’an fuhr. Auf dem Weg musste er die Beleidigungen und die Scherze der Vorbeikommenden über sich ergehen lassen, die den Weg für die Prozession freigaben, doch allmählich wurde das Geschrei leiser und dämpfte sich zu einer entfernten Geräuschkulisse. Wenig später kam der Karren zum Stehen. Ci hörte das Knarren von schweren Portalen und Stimmen, doch er verstand nicht, was sie redeten. Dann fuhr der Wagen wieder an, hielt erneut, und man hieß ihn aussteigen. Über einen gepflasterten Platz wurde er an eine Rampe geführt. Als er sie hinaufstieg, schlug ihm ein unangenehmer Geruch nach Schimmel, Kälte und Schmutz entgegen. Ihn schauderte. Plötzlich glaubte er zu wissen, dass er dort, wo man ihn hinbrachte, nicht mehr lebendig herauskommen würde. Schließlich hörte er, wie sich ein Schlüssel in einem Schloss drehte, bevor manihn ein paar Schritte weiter stieß.Wieder klapperten

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