Der Totenleser
Schlüssel – dann wurde alles still. Als er vermutete, alleine zu sein, nahm er die Kapuze vom Kopf. In dem Moment erklangen die Schritte einer Wache.
»Aufstehen!«, befahl eine Stimme.
Cis Augen blickten wachsam in eine Fackel, die drohte, ihm die Wimpern zu verbrennen. Erst als der Soldat zurücktrat, begann Ci, die Dunkelheit des Kerkers wahrzunehmen, in den man ihn verschleppt hatte. Ein Raum ohne Türen und Fenster. An den feuchten Steinwänden hingen Ketten und Zangen.
Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte er den Mann, der vor ihm stand.
»So sehen wir uns wieder«, sagte Kan.
Ci überlief ein eisiger Schauer. Beim Anblick der Folterwerkzeuge, die auf einer Bank bereitlagen, schnürte es ihm den Atem ab.
»Ja, was für ein Zufall«, scherzte er bitter.
»Knie dich hin.«
Ci machte sich auf das Schlimmste gefasst. Seine Knie schlugen hart auf, und sein Kopf neigte sich zu Boden, bis er in eine Pfütze tauchte, in Erwartung des endgültigen Schlages. Doch stattdessen trat eine zweite Figur vor. Eine Handbreit vor seinen Augen erkannte er die hochgebogenen Spitzen eines Paars schwarzer, mit Gold und Edelsteinen besetzter Schuhe. Ci ließ seinen Blick langsam an der Robe aus rotem Brokat hinaufwandern, dann ängstlich über den Gürtel aus Perlmutt gleiten, bis er ungläubig das Siegel sah, das an einer Kette hing, die noch heller leuchtete als Gold – es war das Siegel des Kaisers.
Er schloss die Augen und senkte erneut den Kopf. Den Sohn des Himmels ohne Erlaubnis anzuschauen, bedeuteteden sicheren Tod. Er dachte bei sich, dass der Kaiser wohl persönlich seiner Hinrichtung beiwohnen wollte. Er biss die Zähne zusammen und wartete.
»Bist du derjenige, den man den Totenleser nennt?«
Ci sagte nichts. Er versuchte zu schlucken, doch seine Kehle war trocken, als hätte er einen Löffel voll Sand verschluckt.
»So nennt man mich, Kaiserliche Hoheit.«
»Steh auf !«
Einige Hände halfen Ci auf, sofort umringte eine Gruppe von bewaffneten Wächtern den Kaiser Nin Zong, und, flankiert von Kan, trat Seine Hoheit den Weg durch einen dämmerigen Korridor an. Eskortiert von zwei Wärtern folgte Ci.
Aus dem engen Gang traten sie hinaus in einen kuppelförmigen Raum, in dessen Mitte zwei Särge aus Pinienholz standen. Mehrere Fackeln knisterten in der Dunkelheit und warfen einen Feuerschein auf die Körper, die darin lagen. Die Wachen verbeugten sich und traten zur Seite.
»Seine Kaiserliche Hoheit wünscht Eure Meinung«, verkündete Kan scharf.
Mit gesenktem Blick wartete Ci die Zustimmung des Kaisers ab. Als der Höchste ihm das Wort erteilte, näherte Ci sich dem ersten Sarg.
Aufmerksam besah er sich den Leichnam, der darin lag: ein Mann in fortgeschrittenem Alter von zartem Körperbau und mit feinen Gliedern. Die Würmer hatten sein Gesicht bereits stark entstellt, und auch in den Magen waren sie schon gelangt, den eine Wunde freilegte, die ihm von dem toten Eunuchen in ihrer Beschaffenheit bekannt vorkam. Er schätzte, dass der Mann seit fünf Tagen tot war.
Schweigend trat er an den zweiten Sarg, in dem ein jüngerer Mann in einem ähnlichen Verwesungszustand lag. Hierbedeckten die Larven eine Wunde, die sich über seinem Herzen öffnete.
Zweifellos waren die beiden Männer durch die Hand desselben Mörders gestorben. Desselben Mörders, der auch den Eunuchen vom Tag zuvor auf dem Gewissen hatte.
»Sprich zu mir!«, befahl der Kaiser.
Ci verbeugte sich zitternd. Dann fasste er all seinen Mut, sah auf und begann mit fester Stimme seine Beobachtungen auszuführen. Ebenfalls erwähnte er, dass die Wunden der beiden Toten auffällige Ähnlichkeiten mit denen des bereits untersuchten Eunuchen hätten und die Vermutung sich aufdränge, dass man es mit einem einzigen Täter zu tun habe.
Die wichtigste Parallele sah Ci in der Todesursache, die in allen drei Fällen eine tiefe Wunde in Herznähe war. Ihre Größe und Beschaffenheit deutete darauf hin, dass sie mit ein und demselben Objekt zugefügt worden waren: einem Messer mit geschwungener Klinge. Und offenbar liege in allen Fällen dasselbe Motiv vor: Man hatte etwas aus dem Inneren der Toten herausholen wollen. Doch was? Kurioserweise zeigte keine der Leichen Spuren eines Kampfes. Es blieb noch das für ihn aufregendste Detail zu erwähnen: Trotz des Verwesungsgestanks verströmten alle drei den leichten, aber intensiven Duft eines ähnlichen Parfüms.
Doch es gab auch Unterschiede. Sowohl im Fall des Eunuchen als
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