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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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auch bei dem Leichnam des älteren Mannes im ersten Sarg hatte sich der Mörder bemüht, jedes Detail zu eliminieren, das eine Identifizierung erleichtern könnte: Der Mörder hatte dem Eunuchen das Geschlechtsteil, die Füße und den Kopf amputiert, und dem Toten im ersten Sarg hatte er das Gesicht mit unzähligen Schnittwunden entstellt, was die Vermehrung der Würmer begünstigt hatte.
    »Doch wenn Ihr den dritten Körper betrachtet, werdet Ihrfeststellen, dass hier trotz der Einwirkung der Würmer das Gesicht beinahe intakt ist.«
    Der Kaiser nickte kommentarlos und bedeutete Ci, fortzufahren.
    »Meiner Meinung nach ist diese Tatsache weder einer Gedankenlosigkeit geschuldet noch Ergebnis einer Improvisation. Wenn wir die Hände betrachten, sehen wir, dass die des Toten in dem zweiten Sarg die Schwielen und den Schmutz eines Mittellosen aufweisen. Die zersplitterten Nägel und die kleinen Narben an den Fingern deuten auf schwere Arbeit und niedere Herkunft hin. Die des Eunuchen und des Alten dagegen sind fein und gut gepflegt, was uns ihre hohe gesellschaftliche Stellung verrät.« Er machte eine kleine Pause, um seine Gedanken zu ordnen.
    »Ich denke, dass der Mörder entweder durch irgendeinen Umstand überrascht wurde, der ihn zur Eile drängte, oder es machte ihm nichts aus, dass man die Leiche eines armen Arbeiters identifizieren konnte, den vielleicht nicht einmal seine Mutter mehr in der Lage wäre zu erkennen. Hingegen wusste er gut zu verhindern, dass Gleiches mit den anderen beiden gelingen konnte, denn wenn wir die Identität der Opfer feststellten, könnten wir eine Verbindung zu ihrem Henker finden.«
    »Dein Urteil lautet also …«
    »Wenn ich doch nur eins hätte«, seufzte Ci.
    »Ich habe Euch gewarnt, Majestät. Er kann keine Toten lesen!« Kan lächelte spöttisch.
    »Aber kannst du irgendeinen Schluss ziehen?«, fragte der Kaiser. Sein Gesicht zeigte keine Regung.
    »Es tut mir leid, Euch zu enttäuschen, Majestät. Ich fürchte, Eure Experten haben richtig vermutet, als sie die Morde einer gefährlichen Sekte zuschrieben. Vielleicht hätte ichEuch nützlicher sein können, wenn ich die richtigen Materialien zur Verfügung gehabt hätte. Ohne Pinzetten und Essig jedoch, ohne Sägen und Chemikalien wage ich nicht, weitergehende Vermutungen anzustellen als diejenigen, die ich bisher geäußert habe. Diese Leichen weisen einen solchen Grad der Verwesung auf, dass ich daraus einzig ableiten kann, dass beide Verbrechen kurz nacheinander begangen wurden. Der Fortschritt des Verfalls deutet darauf hin, dass zuerst der Alte starb und dann der Arbeiter.«
    Nin Zong strich sich durch den spärlichen Bart. Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich gab er Kan ein Zeichen, sich ihm zu nähern. Der Kaiser flüsterte ihm etwas zu, und Kans Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig. Er sah verächtlich zu Ci und zog sich, begleitet von einem Beamten, zurück.
    »Gut, Totenleser, eine letzte Frage«, sagte der Kaiser leise. »Du hast vorhin meine Richter erwähnt. Gibt es etwas, das sie nicht getan haben, das man hätte tun sollen?« Er wies auf zwei Männer seines Gefolges in grünen Tuniken und Baretten, die ein wenig abseits standen und ihn misstrauisch beobachteten.
    »Haben sie ihn gezeichnet?« Er deutete auf den Jungen, dessen Gesicht noch erkennbar war.
    »Gezeichnet? Ich verstehe nicht.«
    »In ein paar Tagen wird von ihm nur noch der Schädel übrig sein. Ich an Eurer Stelle würde ein möglichst exaktes Porträt anfertigen lassen. Vielleicht braucht man es irgendwann zur Identifizierung.«
    Sie gingen hinüber in einen angrenzenden Saal. Vor der Schwelle hielt der Kaiser inne und sagte etwas zu einem weißhaarigen Beamten, der mehrmals nickte. Dann zog sichNin Zong zurück, eskortiert von seinem gesamten Gefolge, und ließ Ci alleine mit dem Diener zurück, den er eben instruiert hatte.
    Als die Türen ins Schloss gefallen waren, trat er auf Ci zu.
    »Totenleser … ein interessanter Name. Hast du ihn dir selbst gegeben?« Er musterte Ci streng.
    »Nein, Herr.«
    »So. Und was bedeutet er?«
    »Ich denke, er bezieht sich auf mein Talent, Leichen zu untersuchen und die Todesursache herauszufinden. Den Namen haben sie mir in der Akademie gegeben, wo ich studiere … studiert habe«, korrigierte er sich.
    »In der Ming-Akademie … Ja, die kenne ich. In Lin’an kennt sie jeder. Mein Name ist Bo. Der Kaiser hat mich beauftragt, als Assistent und Verbindungsmann zwischen ihm und dir zu fungieren,

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