Der Totenleser
engsten Berater wagten es, sich ihm zu nähern, allein seinen Ehefrauen und seinen Kindern war es gestattet, ihn zu berühren, und einzig seinen Eunuchen gelang es, ihn zu überzeugen. Sein Leben fand ausschließlich innerhalb der Mauern des Großen Palastes statt, zwischen Mauern, die ihn vor der Verderbtheit und dem Elend der Außenwelt schützten. Eingeschlossen in seinen goldenen Käfig, glich das Leben des Höchsten einem unendlichen Protokoll aus Empfängen,Zeremonien und Riten gemäß den konfuzianischen Regeln, ohne je eine Möglichkeit der Variation. Er trug eine enorme Verantwortung, und sein Amt war kein Vergnügen, sondern ein ständiges Opfer und eine erdrückende Pflicht.
Als sie das Eingangstor durchschritten, dachte Ci daran, dass sie im Begriff waren, über die Schwelle zu treten, welche die Hölle vom Himmel schied, ohne genau zu wissen, welches von beiden sich auf welcher Seite befand.
Vor Ci tat sich eine Welt von unfassbarem Reichtum und Luxus auf. In den Fels gehauene Quellen tränkten das Grün eines Gartens, in dem Rehe umhersprangen und Pfauen stolzierten. Flüsschen plätscherten zwischen Prachtpflanzen dahin, und überall glänzte das Gold auf Säulen,Vordächern und Balustraden. Ci bestaunte die Dächer, die luftig über dem Gesims schwebten und in gewagten Winkeln zum Firmament aufstrebten. Der Gebäudekomplex war in einem perfekten Raster angeordnet, auf einer Achse von Nord nach Süd ragte er herausfordernd und bedrohlich auf wie ein riesenhafter Soldat. Zu beiden Seiten der Straße, die vom Tor zum Palast führte, bildeten bewaffnete Wächter ein lückenloses Spalier.
Schweigend zogen sie weiter bis zu der Treppe, die hinauf in den ersten Palast führte, den Empfangspavillon, von dem aus man in den Palast der Kälte und in den Palast der Wärme gelangte. In dem mit einem Ziegeldach überspannten Säulengang wurden sie ungeduldig von einem beleibten Einäugigen erwartet, dessen Kopfbedeckung ihn als den ehrenwerten Kan auswies, Mitglied des Xing Bu , des gefürchteten Strafrats. Beim Anblick seiner leeren Augenhöhle erschauderte Ci.
Ein mürrischer Funktionär erledigte die protokollarische Vorstellung. Nach den üblichen Verbeugungen bat er dieGäste, ihm durch einen schier endlosen Korridor zu folgen. Sie passierten mehrere Säle, die mit schneeweißen Porzellanvasen geschmückt waren, welche aufs schönste mit dem Purpurrot der Wände kontrastierten, durchquerten einen quadratischen Kreuzgang, der glitzerte wie eine Jademine, und kamen in einen anderen, weniger raffinierten, aber gleichermaßen imposanten Pavillon. Dort bat der Funktionär mit einer sehr entschiedenen Geste um Aufmerksamkeit.
»Sehr verehrte Experten, begrüßt nun den Kaiser Nin Zong.«
Er deutete auf den leeren Thron, der den Saal dominierte, den sie soeben betreten hatten.
Alle Anwesenden warfen sich vor dem Thron auf die Knie und schlugen mit der Stirn auf den Boden, als säße vor ihnen der leibhaftige Kaiser. Als das Ritual vollzogen war, übergab der Funktionär das Wort an Kan. Der Einäugige kletterte schwerfällig auf ein Podium und musterte die Anwesenden. In seinem speckigen Gesicht entdeckte Ci einen Anflug von Furcht.
»Wie ihr bereits wisst, wurdet ihr bestellt, um eine wahrhaft delikate Angelegenheit aufzuklären. Eine Situation, die mehr euren Instinkt fordern wird als eure Intelligenz. Was ihr sehen werdet, ist monströs und übersteigt das menschliche Fassungsvermögen. Ich weiß nicht, ob wir es mit einem menschlichen Verbrecher zu tun haben oder mit einer Bestie. Doch was immer es ist, ihr seid hier, um dieses abscheuliche Wesen zu fangen.«
Kan stieg wieder vom Podium herunter und führte die kleine Gruppe zu einem Saal, der von zwei Soldaten bewacht wurde, die ebenso sonderbar aussahen wie die Äxte, die sie trugen. Ci bestaunte die Pforte aus Ebenholz, in derenTürsturz die zehn Könige der Unterwelt eingelassen waren. Als die Tür sich öffnete, schlug ihnen ein grauenhafter Verwesungsgestank entgegen.
Ein Schüler Kans bot den Experten mit Kampfer getränkte Fasern an, die sie sich eilig in die Nasenlöcher steckten. Dann lud er sie ein, ihm in die Tiefen der Kammer des Schreckens zu folgen. Einer nach dem anderen nahmen sie Aufstellung um einen Tisch, auf dem sich unter einem Laken die Silhouette einer verstümmelten, menschenähnlichen Gestalt abzeichnete. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Neugier, die sich schnell in Fassungslosigkeit verwandelte – und dann in Furcht. Dort,
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