Der Totenleser
Strafrates, erlaubt, dass ich mich vor Eurem Edelmut verneige.« Er würdigte Kan mit einer Verbeugung. »Ich bin nur ein einfacher Professor,darumdanke ich Euch, dass Ihr meine Gegenwart in dieser furchtbaren Angelegenheit schätzt. Ich hoffe, dass es mir mit Hilfe der Geister gelingen wird, meine Vorstellungskraft zu entfachen und etwas aus dem Nebel ans Licht zu heben.« Kan forderte ihn mit einer Geste auf, weiterzusprechen. »Darüber hinaus möchte ich diejenigen bitten, mich zu entschuldigen, die ich möglicherweise durch Beobachtungen brüskiere, die von den bisher angeführten abweichen. In diesem Fall hoffe ich auf Euer Wohlwollen.«
Ming schwieg und betrachtete den Rücken der Toten. Dann bat er die Hebamme, sie in ihre ursprüngliche Position zu wenden. Er besah sich die Verletzungen von Nahem, dann bat er um das Einverständnis Kans, den geschundenen Körper mit einem Bambusstab abtasten zu dürfen. Kan willigte ein.
Nach einer Weile räusperte er sich und begann in die angespannte Stille zu sprechen.
»Die Wunden sind unbestechliche Zeugen der Geschehnisse. Manchmal sagen sie uns, wie, manchmal sagen sie uns, wann, und manchmal sagen sie uns sogar, warum jemand getötet wurde. Doch das, was wir hier und heute vor uns sehen, schreit nur nach einem Motiv: Rache. Unsere Erfahrung mit Leichen erlaubt uns, die Tiefe eines Schnitts, die Intention eines Schlags und sogar die Kraft zu bestimmen, mit der er ausgeführt wurde, doch um ein Verbrechen aufzuklären, ist es unerlässlich, in die Gedanken des Mörders einzudringen.« Er machte eine Pause, die bei Kan ein nervöses Fingertrommeln auslöste. »Es ist reine Spekulation, aber in diesem Zusammenhang drängt sich die Vermutung auf, dass diesem Verbrechen ein lasterhafter Impuls zugrunde liegt. Darauf deutet die brutale Verstümmelung des Unterleibs hin. Ich vermag nicht zu sagen, ob diese Verstümmelung die Tat einerokkultistischen Sekte ist. Die Wunde in der Brust gibt einen möglichen Hinweis darauf. Doch ich bin absolut überzeugt davon, dass der Mörder den Kopf und die Füße nicht im Zuge eines makabren Rituals abtrennte, sondern, um eine Identifizierung des Opfers zu verhindern. Das Gesicht hätte die Identität der Frau auf den ersten Blick preisgegeben, und die Füße hätten das Geheimnis ihrer Abstammung oder Position verraten.«
»Ich verstehe Euch nicht«, unterbrach Kan.
»Diese Frau war keine einfache Bäuerin. Ihre feinen Hände, ihre gepflegten Nägel und ihre seidige Haut lassen die Schlussfolgerung zu, dass sie der Oberschicht entstammt. Doch der Mörder versuchte, das Gegenteil glauben zu machen, indem er den Leichnam in grobe Gewänder kleidete.« Ming ging langsam im Saal auf und ab. »Jedermann weiß, dass die Frauen der hohen Gesellschaft ihre Füße verschönern, indem sie sie mit Bandagen umwickeln, die das Wachstum hemmen. Doch kaum jemand weiß, dass diese schmerzhafte Deformation bei jeder Frau anders aussieht. Und obwohl sie ihre Lotosfüße niemals öffentlich zeigen, pflegen sie sie aufwendig mit Hilfe ihrer Bediensteten. Somit ist also jede dieser Frauen von den Dienern auch ohne Gesicht leicht durch die Untersuchung der Füße zu erkennen. Und das ist es, was der Mörder verhindern wollte.«
»Interessant … Und was die Wunde in der Brust betrifft?«
»Mein Vorredner hat sie der besonderen Grausamkeit des Mörders zugeschrieben, an sich eine Tatsache, die nicht zu bezweifeln steht, doch ich würde mich nicht darauf festlegen, dass die Wunde sofort nach dem Eintreten des Todes beigebracht wurde. Es ist durchaus denkbar, dass irgendein wilder Hund sie ihr zugefügt hat, nachdem die Leiche in der Sackgasse liegen gelassen wurde.«
Kan spitzte seine fleischigen Lippen. Er wandte den Blick zu der Wasseruhr, die die Stunden maß, und schien etwas zu überlegen.
»Gut, meine Herren. Im Namen des Kaisers danke ich euch für eure Mühe. Sollten wir euch noch einmal benötigen, werden wir euch rufen lassen. Wenn ihr jetzt so freundlich wärt, mein Beamter wird euch zum Ausgang begleiten.« Er machte kehrt, um den Saal zu verlassen.
»Exzellenz! Entschuldigt …«, wagte Ming sich vor. »Der Totenleser war noch nicht an der Reihe. Ich habe dem Justizbeamten der Präfektur von ihm erzählt, und er war einverstanden, dass er uns begleitet.«
»Der Totenleser?«, fragte der Strafrat verwundert.
»Ja, mein bester Schüler«, sagte er und deutete auf Ci. »Es mag seltsam klingen, doch seine Augen sehen, was für uns anderen im
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