Der Totenleser
wo eigentlich der Kopf der Gestalt hätte sitzen müssen, fiel das Laken unvermittelt in sich zusammen.
Auf ein Zeichen von Kan zog die ranghöchste Hebamme des Hauses das Tuch von dem Kadaver, und entsetzt trat der Richter einen Schritt nach hinten. Langsam wichen alle Versammelten zurück – alle bis auf Ci.
Sehr konzentriert betrachtete Ci den zerstückelten Körper, der vor ihnen lag. Er hatte einer Frau gehört, die, geschändet ohne Mitleid, nun an ein halbverschlungenes Beutetier erinnerte: Der Kopf und die Füße waren vollständig abgetrennt, unter der rechten Brust klaffte ein tiefer Krater, und von der Scham bis zum Bauchnabel war ein Dreieck herausgerissen, das die Eingeweide freilegte.
Was für eine Barbarei!, dachte Ci traurig. Die Roheit, die diese Frau hatte erleiden müssen, stand in einem schockierenden Gegensatz zu ihren fein geformten Händen und ihrer hellen, seidigen Haut. Und auch zu dem sanften Duft, der trotz des üblen Verwesungsgeruchs noch leicht wahrnehmbar war.
Kan las ihnen den vorläufigen Bericht vor, den seine Beamten nach den Angaben der Hebamme ausgearbeitet hatten.Viel mehr als das, was man auf den ersten Blick wahrnehmen konnte, stand allerdings nicht in dem Rapport. Zusätzlich erwähnt wurden nur das geschätzte Alter der Frau – etwa dreißig Jahre – und die Tatsache, dass die Leiche bekleidet in einer Sackgasse nahe dem Salzmarkt entdeckt worden war. Bisher hatte man weder ihre Füße noch ihren Kopf finden können. Zuletzt wurde darüber spekuliert, welches Tier einen Menschen derart zurichten würde – ein Tiger? Ein Hund? Oder ein Drache?
Als er den Bericht fertiggelesen hatte, bat Kan die Anwesenden um ein Urteil.Während die anderen anfingen durcheinanderzureden, schüttelte Ci den Kopf. Sicher kannte sich die Hebamme mit Geburten aus und mit Vorschriften der Hygiene, doch er bezweifelte, dass sie in der Kunst des Totenlesens bewandert war. Aber da es einem Mann nach den konfuzianischen Gesetzen strengstens verboten war, den Leichnam einer Frau zu berühren, mussten sie mit dem Material arbeiten, das der Bericht ihnen lieferte.
Der Richter der Präfektur war der Erste, der sich vorwagte. Er ging mit langsamen Schritten um den Leichnam herum und bat die Hebamme, ihn zu wenden. Die anderen nutzten die Gelegenheit ebenfalls und traten vor, um den weißen, makellosen Rücken, der aus einer fülligen Taille herauswuchs, und den sanft geschwungenen Po zu begutachten. Der Richter umrundete den Leichnam noch einmal, bevor er sich durch die spärlichen Haare seines Spitzbartes fuhr. Er bat darum, die Kleidungsstücke, die das Opfer zum Zeitpunkt des Überfalls getragen hatte, in Augenschein nehmen zu dürfen. Es war ein einfaches Leinengewand, wie Bedienstete es trugen. Er kratzte sich am Kopf und wandte sich an Kan.
»Ehrenwertes Mitglied des Strafrats, angesichts eines so abscheulichenVerbrechens fliehen die Worte ängstlich aus meiner Kehle. Ich denke, es ist nicht nötig, über die Zahl und Natur der Wunden zu sprechen, die bereits aus der Voruntersuchung bekannt ist. Natürlich bin ich mit meinen Kollegen einer Meinung, die von der Einwirkung eines Tieres ausgehen, dessen Natur ich auf Grund der ungewöhnlichen Verletzungen nicht zu bestimmen vermag.« Er schien seinen nächsten Satz gründlich zu überlegen. »Doch in Anbetracht der Tatsachen, die sich uns hier offenbaren, wage ich eine weitergehende Vermutung, nämlich, dass wir es mit einer dieser Sekten zu tun haben, welche die dunklen Künste der Hexerei betreiben. Vielleicht mit den Jüngern des Weißen Lotus, vielleicht mit den Manichäern, den nestorianischen Christen oder den Anhängern des Messias Maitreya. Darauf deutet hin, dass man die Unglückliche wie im Rausch enthauptete und ihr die Füße abtrennte, und damit nicht genug, eine krankhafte Lust an Horror und Verderbnis befriedigte, indem man einer Bestie gestattete, ihre Lungen zu fressen.« Er sah in die Runde. »Die Motive? Die können so mannigfaltig sein wie die kranken Gespinste der Mörder: Es könnte ein Initiationsritual, eine Strafe nach Ungehorsam, ein Opfer an die Dämonen gewesen sein, die Suche nach einem Elixier, das irgendeine Zutat aus dem menschlichen Körper verlangt.«
Kan machte eine zustimmende Kopfbewegung, während er über die Worte des Richters nachdachte. Dann übergab er das Wort an Ming.
Der Professor erhob sich langsam, aufmerksam beobachtete Ci jede seiner Gesten und jedes seiner Worte.
»Hochverehrtes Mitglied des
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