Der Totenleser
Erfolge, weil ihr Nachklang sich ausbreitetwie eine Pfütze Öl, und darüber vergisst man die Misserfolge. Dutzende Male waren meine Vermutungen falsch, und in Hunderten von Fällen habe ich nur Dinge beobachtet, die auch ein Neugeborener bemerkt hätte. Ich verbringe den ganzen Tag zwischen Leichen.Wie soll ich da nicht bisweilen richtig liegen? Die Mehrheit der Fälle, die in die Akademie gelangen, sind Todesfälle infolge grausamer Morde, Eifersuchtsstreitereien, Tavernenschlägereien oder Streitigkeiten um Grund und Boden. Jeder, der sich ein wenig im Umkreis des Verstorbenen umhört, könnte das Urteil fällen, ohne der Aufbahrung beizuwohnen. Doch hier haben wir es nicht mit irgendeinem Mörder zu tun, dessen Hirn vom Wein vernebelt ist. Die Person, die diese Verbrechen begangen hat, ist nicht nur außergewöhnlich grausam, zweifellos ist ihre Intelligenz noch größer als ihre Bösartigkeit. Und Eure Richter? Sie werden nie zulassen, dass ein dahergelaufener Neuling ohne Studium und Erfahrung ihnen Vorschriften macht.«
»Trotz alledem hat keiner von ihnen herausgefunden, dass es sich bei der toten Frau in Wirklichkeit um einen Eunuchen handelte.«
Ci verstummte. Es machte ihn stolz, dass man am Hof seine Dienste schätzte, doch er fürchtete, dass man, wenn er sich zu sehr in die Sache verwickeln ließe, Dinge über seine Vergangenheit herausfinden könnte, die Missfallen erregen würden.
»Vergiss die Richter«, beharrte Bo. »In unserem Staat ist kein Platz für Privilegien. Wir unterstützen diejenigen, die vorankommen wollen, die sich bemühen, die mutig und klug sind. Wir haben erfahren, dass es dein Traum ist, an den Kaiserlichen Prüfungen teilzunehmen. Prüfungen, an denen, wie du weißt, jeder teilnehmen kann, unabhängig von Herkunft und sozialem Status. In unserem Land kann ein Bauer Minister werden, ein Fischer Richter und eine Waise Steuereintreiber.Unsere Gesetze sind streng gegen diejenigen, die sie brechen, doch sie belohnen die, die sich verdient machen. Und denk daran: Wenn du besser bist als sie, dann verdienst du nicht nur, dass dir geholfen wird. Dann bist du auch verpflichtet, zu helfen.«
Ci nickte. Er ahnte, dass ihn nichts mehr von diesem vergifteten Geschenk befreien konnte.
»Ich verstehe deine Überraschung, aber niemand will dir eine übergroße Verantwortung aufbürden«, fuhr der Beamte fort. »Am Hof gibt es fähige Richter, die du nicht unterschätzen solltest. Es ist nicht so, dass du die Untersuchungen leiten sollst, du sollst nur deine Beobachtungen beisteuern. Das ist nicht so schwierig. Und der Kaiser ist bereit, dich großzügig zu entlohnen: Für den Fall, dass du erfolgreich bist, garantiert er dir einen Posten in der Verwaltung.«
Ein solches Angebot war weit mehr, als Ci je zu hoffen gewagt hatte. Trotzdem wurde er das Gefühl des Unbehagens nicht los.
»Herr, kann ich offen sprechen?«
»Ich bestehe darauf.« Bo breitete die Arme aus.
»Vielleicht sind die Richter des Palastes klüger, als Ihr denkt.«
Bo zog eine Augenbraue hoch und runzelte die Stirn.
»Jetzt bin ich derjenige, der nicht versteht.«
»Die Justiz, von der Ihr sprecht, die straft und belohnt und die sich im Katalog der Verdienste und Vergehen widerspiegelt …«
»Du meinst das Punktesystem, mit dem die Rechtschaffenheit oder die Verderbtheit eines Mannes gemessen wird? Es erscheint mir gerecht, dass, wenn wir diejenigen bestrafen, die ein Verbrechen begehen, auch diejenigen belohnen, die Gutes tun. Was hat das mit den Richtern am Hofe zu tun?«
»Dass dasselbe Maß auch für die Richter gilt. Sie selbst werden ebenfalls belohnt, wenn sie gerechte Urteile sprechen, aber hart bestraft, wenn sie irren. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Laufbahn eines Richters beendet wird, weil er einen Fehler begangen hat.«
»Selbstverständlich. Die Verantwortung besteht nicht nur in einer Richtung. Das Leben der Angeklagten hängt von ihnen ab. Und wenn sie sich täuschen, müssen sie dafür bezahlen.«
»In einigen Fällen sogar mit ihrem eigenen Leben«, betonte Ci.
»Das ist abhängig von der Schwere des Fehlers. So ist es gerecht.«
»Dann erscheint es mir logisch, dass sie fürchten, ein Urteil zu sprechen. Warum sollten sie angesichts eines schwierigen Falls ein Fehlurteil riskieren? Dann lieber nichts sagen und die eigene Haut retten.«
In diesem Moment gingen die Türen auf, und Kan betrat den Saal. Mit ernster Miene befahl er Bo, sich zurückzuziehen, dann baute er sich mit
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