Der Totenleser
was bedeutet, dass du alles, was du brauchst, und alles, was du herausfindest, zukünftig mit mir besprechen wirst.« Er machte einen Schritt auf Ci zu. »Ich war bei der Untersuchung des Eunuchen zugegen, und ich muss zugeben, du hast mich beeindruckt. Und den Kaiser offenbar auch.«
»Auf den ehrenwerten Strafrat Kan scheint das nicht unbedingt zuzutreffen.«
»Das stimmt.« Bo zögerte. »Nun ja, diesen Fall leitet Kan persönlich, die Idee, dich hinzuzuziehen, hatte der Kaiser. Kan ist ein disziplinierter, ernsthafter Mann, ein Mann der alten Schule. Ein Krieger, der Steine zerkaut und Feuer trinkt.« Er lächelte. »Im Palast erzählt man sich, dass seine Erziehung so streng war, dass er in seiner Kindheit niemals geweint hat, wobei ich wetten würde, dass er gar nicht weinen kann. Kan hat schon für den Vater des Kaisers gearbeitet, und mit der Zeit ist er auch zu einem der treuesten Berater Nin Zongsgeworden. Er mag verhärtet erscheinen, und in manchen Fällen auch etwas verdreht, wie ein Baum, der schief wächst und sich niemals aufrichten lässt. Aber er ist integer. Und was seine Einschätzung deiner neuen Funktion betrifft: Es hat ihm nicht gefallen, dass du auf eigene Faust den Bauch dieser Frau geöffnet hast, ohne seine Erlaubnis einzuholen.Wenn es etwas gibt, das Kan nicht toleriert, ist das Hochmut. Und du hast mit deiner Untersuchung eine Grenze überschritten, die es nur wenigen gelungen ist zu übertreten.«
»Vielleicht habt Ihr recht …«, sagte Ci besorgt. »Nun, wenn Ihr mein Sprachrohr sein sollt für das, was ich herausfinde … Was soll ich denn herausfinden?«
»Der Sachverstand, den du bei dem Eunuchen bewiesen hast, ließ den Kaiser vermuten, dass du uns nützlich sein kannst. Du hast Dinge entdeckt, die die Richter des Palastes nicht einmal ahnten.« Bo schwieg einen Moment,als fragte er sich plötzlich, ob es angebracht war, weiterzusprechen. Dann holte er mit einem Blick auf Ci Luft und fuhr fort: »Mir wurde aufgetragen, es dir zu erzählen, also hör zu. Das, was ich dir jetzt sage, musst du verwahren, als habest du keine Zunge. Wenn du mit irgendjemandem darüber sprichst, wird nichts auf der Welt dich retten können. Hast du das verstanden?«
»Ich werde schweigen wie ein Grab, Herr«, sagte Ci, und er bereute sofort den unglücklichen Vergleich.
»Es freut mich, das zu hören«, seufzte der Kaiserliche Beamte. »Seit einigen Monaten wohnt das schlimmste aller Übel in Lin’an. Etwas, das sich versteckt hält und droht, uns zu verschlingen. Vielleicht ist es noch schwach, doch die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist unermesslich. Es ist tödlich wie eine Invasion, schrecklich wie eine Plage und viel schwieriger zu besiegen.« Er strich sich durch den weißen Spitzbart, der aus seiner fahlen Haut spross.
Ci begriff nicht, worauf der Mann hinauswollte. Aus seinen Worten war zu schließen, dass sein Verdacht sich auf irgendein übernatürliches Wesen konzentrierte, doch die drei Leichen, die Ci untersucht hatte, waren von etwas sehr Konkretem ermordet worden. Das wollte er gerade zu bedenken geben, als Bo ihm zuvorkam.
»Unsere Gerichtsdiener bemühen sich ohne Ergebnis. Sie stellen Verbindungen her, verfolgen Indizien, die zu weiteren, noch finstereren zu führen scheinen, und wenn unsere Richter glauben, einen Verdächtigen gefunden zu haben, verschwindet der entweder oder taucht bald irgendwo als Leiche auf.« Bo begann nervös umherzugehen. »Deine Ausführungen heute Abend haben dazu geführt, dass der Kaiser beschlossen hat, dich in die Untersuchungen einzubeziehen. Ich bedaure, wenn die Art und Weise dich erschreckt haben sollte, aber es war nötig, schnell und diskret zu handeln.«
»Aber, Herr, ich bin ein einfacher Student. Ich verstehe nicht, wie ich …«
»Student vielleicht, aber einfach sicher nicht.« Bo sah ihn fest an. »Wir haben Erkundigungen über dich eingeholt. Der Kaiser persönlich hat mit dem Magistrat der Präfektur gesprochen, der für deine Anwesenheit bei der Untersuchung gebürgt hat, und der anscheinend ein enger Freund von Professor Ming ist. Der Magistrat war so gütig, uns deine Erfolge in der Akademie zu enthüllen, und er sagte ebenfalls, dass du im Begriff seiest, ein Kompendium aus einer Reihe von Traktaten zu erstellen, was einiges über deine organisatorischen Fähigkeiten aussagt.«
Ci spürte, wie die Last der Verantwortung sich auf seine Schultern senkte.
»Aber das entspricht nicht der Wahrheit, Herr. Man erwähnt oft nur die
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