Der Totenleser
Muster sich als identisch mit dem auf dem blutigen Lumpen erwies. Die Waffe musste also eine Sichel gewesen sein.
»Aus diesem Grund«, erläuterte Feng, »habe ich meinen Assistenten beauftragt, alle Sicheln des Dorfes zu konfiszieren, eine Aufgabe, die er unter Mithilfe der Männer von Bao-Pao den Vormittag über fleißig erledigt hat. Ren!«
Der Assistent schleifte eine Kiste voller Sicheln und Sägen herbei, während Feng an den Leichnam herantrat.
»Der Kopf wurde mit einer Schlachtersäge vom Rumpf getrennt, einer Säge, die Bao-Paos Männer auf der Parzelle gefunden haben, wo man Shang ermordet hat.« Er zog eine Säge aus der Kiste und legte sie auf den Boden. »Doch der tödliche Schnitt ist mit einem anderen Werkzeug ausgeführt worden … Zweifellos mit einer Sichel wie dieser.«
Ein Raunen ging durch die andächtige Stille.
»Die Sichel weist keine besonderen Merkmale auf«, sprach Feng weiter. »Ein gewöhnliches Gerät aus Eisen mit Holzgriff. Doch glücklicherweise ist in jeden Griff der Name des Besitzers eingraviert. Wenn wir also die Sichel identifizieren, mit der Shang getötet wurde, haben wir auch den Schuldigen.« Feng gab Ren ein Zeichen.
Der Assistent öffnete die Tür des Schuppens, davor wartete eine Gruppe von Bauern, die von Bao-Paos Männern festgesetzt worden waren. Ren forderte sie auf, einzutreten. Feng fragte Ci, ob er sich in der Lage fühle, ihm ein wenig zu helfen. Der Junge nickte eifrig und erhob sich mühsam, während Feng ihm seine Instruktionen ins Ohr flüsterte. Dann nahm er ein Heft und einen Pinsel zur Hand und folgte dem Richter zu der Kiste mit den Sicheln. Feng begutachtete die Werkzeuge eingehend, legte eine Klinge nach der anderen auf die Blutspuren des Lumpens, hielt sie gegen das Licht. Dabei diktierte er Ci seine Beobachtungen, und wie Feng es ihm aufgetragen hatte, tat der so, als ob er geschäftig mitschriebe.
Ci fragte sich, was Feng mit diesem Vorgehen bezweckte. Solange eine der Sicheln nicht zufällig eine einzigartige Zahnung aufwies, konnte daraus schwerlich eine beweiskräftige Information gewonnen werden. Doch plötzlich begriff er,dass Feng eine Finte anwendete. Da das Strafgesetzbuch kategorisch die Verurteilung eines Angeklagten ohne vorheriges Geständnis verbot, und der Richter offenbar keine Beweise hatte, versuchte er nun den Schuldigen einzuschüchtern.
Feng beendete seine vorgeblichen Untersuchungen und gab vor, Cis nicht existierende Notizen zu lesen. Langsam drehte er sich zu den Bauern um und strich sich nachdenklich durch den Bart.
»Ich sage es nur einmal!«, rief er über das Wüten des Sturms hinweg. »Die Blutflecke, die auf diesem Lumpen gefunden wurden, entlarven den Schuldigen eindeutig. Die Spuren können nur von einer einzigen Sichel stammen, auf deren Griff, wie ihr wisst, ein Name eingraviert ist.« Er musterte die ängstlichen Gesichter der Arbeiter. »Ich weiß, dass ihr alle die Strafe für ein so abscheuliches Verbrechen kennt. Was ihr jedoch nicht wisst, ist Folgendes: Wenn der Schuldige jetzt nicht gesteht, wird seine Hinrichtung auf der Stelle durchgeführt, und zwar durch Lingchi «, donnerte er.
Die Bauern schwiegen entsetzt, in ihren Gesichtern spiegelte sich nackte Angst. Auch Ci sah verstört zu dem Richter hinüber. Lingchi , der Tod durch tausend Schnitte, war die blutigste Strafe, die man sich vorstellen konnte. Der Verurteilte wurde entkleidet, an einen Pfahl gefesselt, und dann wurden seine Gliedmaßen langsam in Stücke geschnitten, als wollte man Filets daraus machen, und vor ihm ausgebreitet. Man hielt den armen Teufel so lange wie möglich am Leben, bis man ihm schließlich eines der lebenswichtigen Organe herausnahm.
Feng trat dicht vor die Bauern und musterte jeden Einzelnen mit durchdringendem Blick. »Da ich in dieser Subpräfektur nicht der zuständige Richter bin, werde ich dem Schuldigen eine einmalige Möglichkeit einräumen.« Er bliebvor einem jungen Kerl stehen, der leise wimmerte. »In meiner übergroßen Güte werde ich gegenüber dem Schuldigen Barmherzigkeit walten lassen, die er selbst mit Shang nicht hatte. Ich gebe ihm die Möglichkeit, ein Quäntchen Ehre zurückzuerlangen, indem er sein Verbrechen gesteht, bevor er angeklagt wird. Nur so kann er der Schmach und der schlimmsten Todesart von allen entgehen.«
Der Regen trommelte aufs Dach. Kein weiterer Laut war zu hören. Wie ein Tiger auf der Jagd, in höchster Anspannung und äußerst wachsam schritt Feng die Reihe der Bauern
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