Der Totenleser
konfuzianischen Regeln als schändlich und verachtenswert galt, dann war es wohl der Verrat an der eigenen Familie. Und nichts anderes hatte er getan, indem er unwillkürlich zur Verhaftung seines Bruders beigetragen hatte.
Der Regen wurde stärker. Ci drückte sich unter den niedrigen Vordächern an den Häuserfassaden entlang, und als er um eine Ecke bog, stieß er beinahe mit einem Menschenzug zusammen, der von einem Kuli angeführt wurde, der auf sein Tamburin eindrosch wie ein Verrückter. Ihm folgte ein zweiter, der ein Schild vor sich her trug, auf dem stand: »Hüter der Weisheit – Richter von Jianningfu«. Dahinter schleppten acht Träger eine geschlossene Sänfte, die mit einer feinen Jalousie verhängt war. Das Ende des Zuges bildeten vier schwerbeladene Sklaven, die das persönliche Hab und Gut des Richters von Jianningfu transportierten. Ci verneigte sich respektvoll und blickte dem Pulk mit einem mulmigen Gefühl nach. Doch dann vergaß er für einen Moment seinen Kummer und folgte dem Zug entschlossen bis zum Anwesen von Bao-Pao. Dort postierte er sich an einem der Fenster, um beobachten zu können, was im Innern vor sich ging.
Der Dorfvorsteher empfing den Hüter des Gesetzes devot und ehrfürchtig, als handelte es sich um den Kaiser höchstpersönlich. In der Zwischenzeit trugen die Bediensteten von Bao-Pao das Gepäck ins Haus. Der Dorfvorsteher trieb sie ungeduldig an, indem er in die Hände klatschte, und informierte seinen Gast über die neuesten Vorgänge und die Anwesenheit Fengs im Dorf.
»Ihr sagt, dass dieser Lu bisher nicht gefasst wurde?«, hörte Ci den Richter aus Jianningfu fragen.
»Das verdammte Unwetter macht es den Hunden schwer, Witterung aufzunehmen, aber wir werden ihn bald finden. Seid Ihr hungrig?«
»Natürlich!« Der dicke Mann ließ sich auf dem kleinen Schemel am Kopf des Tisches nieder. »Sagt, ist der Angeklagte nicht der Sohn des Staatsbeamten?«
»Lu? Ja, in der Tat. Euer Gedächtnis ist nach wie vor phänomenal.«
Bao-Pao war gerade dabei, seinem Gast Tee nachzuschenken, als Feng den Saal betrat.
»Man hat mich eben erst informiert«, entschuldigte sich Feng mit einer Verbeugung. Als der Hüter der Weisheit bemerkte, dass er nach Alter und Rang unter Feng stand, erhob er sich, um ihm seinen Platz anzubieten. Doch Feng lehnte ab, nahm neben Bao-Pao Platz und begann, die Ergebnisse seiner letzten Untersuchungen darzulegen.
»Vorzüglich. Diese Karpfen sind wirklich vorzüglich«, unterbrach ihn der Hüter der Weisheit schmatzend.
Feng hob die Augenbraue. »Wie gesagt, die Angelegenheit ist heikel. Der Beschuldigte ist der Sohn eines ehemaligen Mitarbeiters von mir, und unglücklicherweise war es dessen Bruder, der den Leichnam entdeckte.«
»Das hat Bao-Pao mir erzählt«, bestätigte der Hüter. »Was für ein dummer Junge.« Ungeniert schob er sich einen weiteren Bissen in den Mund.
Ci wusste schon jetzt, dass er diesen gefräßigen Dickwanst niemals mögen würde.
»Wie dem auch sei, ich habe einen detaillierten Bericht vorbereitet, den Ihr vermutlich vor Eurer Inspektion studieren wollt«, sagte Feng.
»Wie bitte? Ah, ja. Wenn er so detailliert ist, warum dann überhaupt eine zweite Untersuchung, noch dazu wenn man so köstliche Speisen vor sich hat?« Er lachte dümmlich.
Feng erkundigte sich, ob man Ci befragen wolle, doch der Hüter winkte bloß ab. Nach einer Weile hörte er endlich auf, zu kauen, und sah Feng an.
»Lassen wir die Bürokratie beiseite und verhaften diesen Bastard.«
Noch vor dem Abend hatte ein Schnüfflertrupp von Bao-Paos Männern Lu auf einem Berg im Wuyi-Gebirge ausfindig gemacht, auf dem Weg nach Wuyishan. Der Gesuchte trug dreitausend Qian an seinem Gürtel bei sich und er wehrte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier gegen seine Häscher. Als sie ihn endlich in ihrer Gewalt hatten, war er bereits halb tot.
* * *
Die Verhandlung sollte am selben Tag nach Sonnenuntergang stattfinden. Diese Nachricht wurde Ci und seiner Familie übermittelt, als Ci gerade versuchte, seinem Vater zu erklären, was geschehen war.
»So etwas würde Lu niemals tun!«, schluchzte der Vater. »Und du, wie konntest du dabei helfen, ihn anzuklagen?«
»Aber Vater, ich wusste doch nicht, dass Lu …« Ci senkte den Kopf. »Feng wird uns helfen. Er hat mir versprochen, dass …«
Doch der Vater war untröstlich. Wortlos nahm er Mei Mei auf den Arm und verließ zusammen mit seiner Frau das Haus.
Ci folgte ihnen traurig in einem gewissen
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