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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Abstand. Er war erstaunt über die Dringlichkeit der Einberufung. Vor jedemMordprozess mussten nacheinander zwei Untersuchungen durch verschiedene Richter angestellt werden, doch wie es schien, hatte der Hüter der Weisheit es eilig, in seine Präfektur zurückzukehren.
    Das Erste, das Ci in den Blick fiel, als er den Saal erreichte, der für die Anhörung vorbereitet worden war, war die Gerichtsstandarte der Präfektur. Davor flankierten zwei Seidenlaternen ein Pult und einen leeren Sessel.
    Sie mussten nicht lange warten, bis Lu eintraf. Er erschien, eskortiert von Bao-Paos Männern, mit Fuß- und Handfesseln und in ein schweres Holzjoch gespannt, was ihm das Aussehen eines geprügelten Esels verlieh und demonstrierte, dass es sich um einen gefährlichen Kriminellen handelte. Kurz darauf betrat auch der Hüter der Weisheit den Raum, bekleidet mit einer schwarzen Robe und der zweiflügeligen Kappe, die ihn als Richter auswies.
    Der beisitzende Beamte verlas die Anklageschrift gegen Lu.
    »Wenn der Kläger einverstanden ist, signiere er das Verlesene«, sagte der Hüter.
    Der älteste Sohn des Verstorbenen kniete zum Zeichen seiner Ergebenheit nieder und schlug mit der Stirn auf den Boden, darauf reichte ihm der Gerichtsdiener die Anklageschrift zur Signatur. Der Mann befeuchtete einen Finger am Tintenstein und drückte einen roten Fingerabdruck oben auf das Papier. Der Gerichtsdiener bestätigte die Authentizität des Abdrucks mit seiner Unterschrift. Dann reichte er das Dokument dem Hüter.
    »Zu Ehren unseres mächtigen Kaisers Nin Zong, Erbe des Himmlischen Reiches, und in seinem verehrten und gelobten Namen erkläre ich – sein bescheidener Diener, Hüter der Weisheit aus der Präfektur Jianningfu und Vorsitzender dieses Gerichts – nach dem Vortrag der Anklagepunkte,die den niederträchtigen Kriminellen Song Lu als Mörder seines Mitbürgers Li Shang belasten, den er ausraubte, tötete, schändete und köpfte, sowie nach den Gesetzen unseres tausendjährigen Strafgesetzbuches, des Songxingtong , alle Schlussfolgerungen für bewiesen, die sich aus dem Bericht des ehrenwerten Richters Feng ergeben. Nachdem dies feststeht, übergebe ich das Wort an den Beschuldigten und gebe ihm die Gelegenheit zum Schuldeingeständnis.«
    Der Gerichtsdiener stieß Lu so grob an, dass er mit den Knien auf dem Boden aufschlug. Lus Augen lagen tief in den Höhlen, und er sah den Hüter verständnislos an.
    »Ich … habe diesen Mann nicht umgebracht«, stammelte er schließlich.
    Ci biss sich auf die Lippe. Seinem Bruder fehlten mehrere Zähne, er glich einem geprügelten Hund.
    »Überleg dir gut, was du sagst«, warnte der Hüter Lu. »Meine Männer sind sehr geschickt mit den verschiedenen Instrumenten …«
    Lu schien die Drohung nicht zu verstehen. Ci vermutete, dass er betrunken war. Eine der Wachen zwang ihn, den Boden zu küssen.
    Der Hüter der Weisheit seufzte gekünstelt und hob an, Fengs Notizen vorzulesen. Als er geendet hatte, sah er Lu forschend an.
    »Der Angeklagte hat gewisse Rechte. Noch ist seine Schuldigkeit nicht vollständig nachgewiesen. Geben wir ihm also die Möglichkeit zu sprechen. Sag mir, Lu, wo befandest du dich im vorletzten Mond zwischen Sonnenaufgang und Mittag?«
    Lu antwortete nicht, also wiederholte der Hüter seine Frage, lauter und sichtlich irritiert.
    »Ich habe gearbeitet«, antwortet Lu schließlich.
    »Gearbeitet? Wo?«
    »Ich weiß nicht. Auf dem Feld«, stammelte er wenig überzeugend.
    »Zwei deiner Bauern sagen aber etwas anderes. Es sieht so aus, als wärst du an diesem Morgen nicht auf dem Reisfeld erschienen.«
    Lu schaute ihn verständnislos an. Er hatte Mühe, aufrecht stehen zu bleiben.
    »Auch wenn du dich nicht erinnerst – Lao, der Wirt, mit dem du die Nacht zuvor bis in die frühen Morgenstunden getrunken hattest, hat es nicht vergessen. Er sagt, ihr habt gewürfelt, du hast dich betrunken und viel Geld verloren«, fuhr der Hüter fort.
    »Das ist unmöglich. Ich habe noch nie viel Geld besessen«, erwiderte Lu mit aufflammendem Trotz.
    »Er sagt, du habest alles verloren.«
    »So ist das eben, wenn man würfelt.«
    »Trotzdem hing an deinem Gürtel eine Kordel mit dreitausend Qian, als du gefasst wurdest.« Der Hüter der Weisheit sah ihn streng an. »Erlaube mir, deine Erinnerung ein wenig aufzufrischen. Heute Nachmittag, als du nach dem Mord auf der Flucht warst …«
    »Ich war nicht auf der Flucht …«, unterbrach Lu den Hüter wagemutig. »Ich war auf dem Weg zum

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