Der Totenleser
ab. Die Männer schwitzten, die Kleidung klebte ihnen auf der Haut.
»Zeig dich, Elender! Es ist deine letzte Chance!«, zischte der Richter. Doch niemand rührte sich.
Feng ballte die Fäuste, ging entschlossen auf Ci zu, riss ihm das Blatt mit den Aufzeichnungen aus der Hand und tat so, als studierte er sie noch einmal. Dann wanderte sein Blick wieder zu den Bauern. Ci fürchtete, dass Feng jeden Augenblick enttarnt werden würde. Umso mehr wunderte er sich über die Bestimmtheit, mit der er vorging.
»Verdammte Blutsauger«, zischte der Richter und verscheuchte den Schwarm Fliegen, der über der Schlachtersäge schwirrte.
»Blutsauger …«, wiederholte er gedankenvoll. Auf einmal schien er eine Eingebung zu haben. Hastig wedelte er die übrigen Insekten hinüber zu den Sicheln und beobachtete triumphierend, dass es eine Klinge gab, die alle Fliegen besonders zu interessieren schien. Die Sichel schien sauber und nichts Außergewöhnliches an sich zu haben. Feng nahm sie in die Hand und hielt sie dicht unter eine Funzel. Das Werkzeug war nur nachlässig geputzt worden, es waren immer noch Reste von Blut darauf zu erkennen. Dann leuchtete derRichter auf den Griff, der den Besitzer verriet. Als er die Inschrift las, zuckte er unwillkürlich zusammen. Das Werkzeug, das in seinen Händen lag, gehörte Cis Bruder Lu.
4
Vorsichtig betastete Ci die Wunde auf seiner Wange. Vielleicht war sie nicht schlimmer als andere, die er sich während der Arbeit auf dem Reisfeld zugezogen hatte, doch würde sie für immer Spuren hinterlassen. Er trat von dem Bronzespiegel zurück und senkte den Kopf.
»Mach dir nichts draus, Junge. Die Wunde wird vernarben, und du wirst sie mit Stolz zur Schau tragen«, tröstete ihn Richter Feng.
»Was geschieht mit ihm?«, fragte Ci tonlos.
»Du meinst, mit deinem Bruder? Du solltest froh sein, dieses Ungeheuer los zu sein«, sagte Feng und deutete auf die Reisküchlein, die man ihm gerade in seine Gemächer gebracht hatte. »Bitte, bediene dich.«
Ci lehnte ab.
»Werden sie ihn hinrichten?«
»Beim Gott der Berge, Ci, es würde mich nicht verwundern. Du hast selbst gesehen, wie er den Toten zugerichtet hat.«
»Er ist mein Bruder …«
»Und ein Mörder.« Feng seufzte. »Ci, ich weiß tatsächlich nicht, wie der zuständige Richter in diesem Fall urteilen wird. Ich gehe aber davon aus, dass er ein vernünftiger Mann ist. Ich werde ihn gern um Milde bitten, wenn dies dein Wunsch ist.«
Ci nickte hoffnungsvoll.
»Ihr wart großartig«, bemerkte er dann. »Die Fliegen auf der Klinge … das getrocknete Blut … Nie im Leben wäre ich darauf gekommen!«
»Es war eine spontane Eingebung. Als ich die Fliegen wegscheuchte, setzten sich alle auf eine ganz bestimmte Sichel. Da wurde mir klar, dass ihr Flug nicht vom Zufall gelenkt war, sondern dass sie sich auf diese Klinge setzen, weil noch Reste trockenen Blutes daran klebten, und dass es sich um die Sichel handeln musste, die dem Mörder gehörte.«
»Darf ich meinen Bruder besuchen?«, fragte Ci leise.
Feng überlegte. »Ich denke schon. Allerdings muss es uns zunächst gelingen, ihn zu fassen …«
Ci verließ die Gemächer des Richters und lief ziellos durch die kleinen Gassen, ohne darauf zu achten, dass alle Fenster sich schlossen, wenn er vorüberging. Ihm fiel auf, dass einige Nachbarn seinen Gruß nicht erwiderten, und als er den Weg Richtung Fluss einschlug, rief man ihm Beleidigungen hinterher. Die vom Regen aufgeweichten Wege waren ein Spiegel seiner Seele, er fühlte sich leer und hoffnungslos. Missmutig blickte er auf die Überreste einiger vom Wind abgedeckter Dächer, auf die terrassenförmigen Reisfelder, die sich die Berghänge hinaufzogen, auf die Barkassen der Schiffer, die verlassen auf dem Fluss vor sich hin schaukelten. Er hasste dieses Dorf. Und er hasste seinen Vater – dafür, dass er ihn betrogen hatte. Er hasste seinen Bruder für seine Brutalität und seine Einfältigkeit, er hasste die Nachbarn, die ihm durch die Wände ihrer Häuser hinterherspionierten, und er hasste den Regen, der ihn Tag für Tag innerlich und äußerlich durchweichte. Er hasste die seltsame Krankheit, die seinen Körper mit Brandwunden überzogen hatte, und sogar seine Schwestern hasste er, dafür, dass sie gestorben warenund ihn alleine mit der kleinen Mei Mei zurückgelassen hatten. Doch vor allem hasste er sich selbst. Denn wenn es etwas Unwürdigeres gab als Grausamkeit und Mord, wenn es ein Verhalten gab, das nach den
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