Der Totenleser
die sie nie haben kann.«
Nachdem er den Parfümeur zum Tor geleitet hatte, betratCi die Gärten. Von der Nüshi zu hören hatte ihn neugierig gemacht, und obwohl er wusste, dass er ihn nicht betreten durfte, zog es ihn hinüber zum Palast der Konkubinen. Und auf dem Weg dorthin versuchte er im Kopf die Fakten zu ordnen, die er bisher zusammengetragen hatte.
Da waren die grausam entstellten Leichen, die er untersucht hatte. Zuerst die des Eunuchen: ein arbeitsamer und gewissenhafter Mann, der offenbar ehrlich war und seine Familie liebte. Dessen Arbeit als Assistent des Finanzverwalters kaum eine so wertvolle Sammlung von Antiquitäten rechtfertigte. Dann die Leiche eines älteren Mannes, er mochte um die fünfzig gewesen sein, mit entstelltem Gesicht und eigenartig durch eine Säure oder eine Krankheit zersetzten Händen – möglicherweise konnten diese Indizien zu seiner Identifizierung führen. Zuletzt der Leichnam des jüngeren Mannes, dessen Gesicht von winzigen Narben übersät war.
Gemeinsam waren diesen Toten das offenbare Interesse des Mörders, eine Identifizierung der Leichen zu verhindern, die schrecklichen kraterförmigen Verletzungen im Oberkörper und der auffällige Duft, den sie trotz ihres Verwesungszustandes verströmten und den nur ein einziger Parfümeur herstellte; ein Duft, den die Nüshi des Kaisers verwaltete.
Er hielt inne. Als er aufblickte, stand er vor dem Palast der Konkubinen, dem verbotenen Bereich. Er duckte sich hinter einen Baum und bestaunte die filigrane Architektur des Gebäudes. Es schien ihm, als könnte er hinter den papierenen Rollos die Silhouetten einiger anmutiger junger Frauen ausmachen, die unbekleidet herumliefen. Unwillkürlich spürte er den Stachel des Verlangens. Wie lange war es her, dass er bei einer Blume gelegen hatte!
Er versuchte die Wollust seiner Gedanken zu zügeln,indem er sich auf die Worte des Parfümeurs konzentrierte. Die Nüshi war die Einzige, die das Parfüm verwaltete. Niemand sonst hatte Zugang dazu. Nicht einmal die Eunuchen. Und wenn stimmte, dass der Parfümeur der Einzige war, der diesen Duft herstellte, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Verantwortliche zu befragen, an wen sie die Lieferungen verteilte.
Unterdessen war er wieder in den Bereich der Palastanlage zurückgekehrt, in dem er sich frei bewegen durfte. Rasch suchte er den Porträtmaler auf, um seine Fortschritte zu kontrollieren. Als er seinen Arbeitsraum betrat, rieb er sich vor Verblüffung die Augen. Auf der Staffelei vor dem Künstler war ein erschreckend lebendiges Abbild des Toten entstanden. Doch das Bild hatte einen fatalen Fehler.
»Ich hätte es sagen sollen … Du hättest ihn mit offenen Augen malen sollen!«
Die Nachricht überraschte den Maler, der sich zum Zeichen seiner Untröstlichkeit mehrmals verbeugte. Und er versicherte Ci, er könne den Fehler ausbessern.
»Könntest du auch noch ein paar Narben hinzufügen?«
Ci beschrieb ihm die Art, Größe, Form, Anzahl und Verteilung der Narben und sagte ihm auch, dass sie um die Augen herum fehlten. Er blieb im Raum, bis der Künstler die Arbeit vollendet hatte.
»Hervorragend!«, rief er schließlich.
Der Porträtist seufzte stolz, verbeugte sich vor Ci und reichte ihm die zusammengerollte Seidenleinwand, als handelte es sich um pures Gold. Sie verabschiedeten sich, und Ci machte sich auf den Weg in sein Zimmer. Dort rollte er die Leinwand wieder aus und betrachtete das Bild aufmerksam. Der Maler hatte tatsächlich erstklassige Arbeit geleistet. Der Mann auf dem Bild wirkte täuschend lebendig. Leider hatte er nur ein Exemplar, was eine öffentliche Verteilung unmöglich machte.
Nachdem er eine Weile dagesessen hatte, ohne zu wissen, was er als Nächstes tun sollte, dachte er an seinen Meister Ming. Er vermisste dessen Rat und die Ruhe, mit der er an die Dinge heranging. Ming wusste immer, was zu tun war und wie man sich verhalten musste. Ci fühlte sich ihm gegenüber schuldig, und er schämte sich, ihn enttäuscht zu haben. Er musste ihn sehen! Hastig rollte er das Porträt wieder zusammen, steckte seine Notizen ein und verließ das Zimmer.
Er durchquerte den Garten, ohne jemanden zu treffen. Doch als er durch das schwere Tor der äußersten Palastmauer ins Freie treten wollte, hielt eine der Wachen ihn unfreundlich zurück.
»Du kommst hier nicht durch«, sagte er bestimmt. Selbst das Kaiserliche Siegel vermochte nicht, ihn umzustimmen. »Der ehrenwerte Kan persönlich hat es angeordnet.«
Ci
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