Der Totenleser
Protokolls.« Er bohrte seinen Blick in Cis Augen. »Darf man erfahren, was du dir davon versprichst? Wie kannst du es wagen, ein Ratsmitglied direkt oder indirekt anzuklagen?«
»Ein Ratsmitglied, das mich daran hindert, meine Untersuchungen durchzuführen, mich einsperrt wie einen Verbrecher …«
»Beim großen Buddha, Ci! Das mit der Mauer war nicht seine Idee. Kan hat nur den Befehl des Kaisers ausgeführt.«
Ci wurde blass.
»Aber …«, stammelte er verständnislos.
»Du dummer Narr! Wenn du ohne Eskorte den Palast verließest, würdest du nicht länger überleben als ein Ei in den Fängen eines Fuchses.« Bo seufzte. »Es ist nicht so, dass du nicht hinausdarfst. Aber wenn du den Palast verlässt, dann nur mit Begleitschutz.«
»Aber das bedeutet …«
»Und natürlich hat Kan die Gemächer von Sanfter Delphin betreten. Was dachtest du denn? Dass er alles in deine Hände legt?«
»Und Ihr versteht nicht, dass ich Euch nicht helfen kann, wenn Ihr mir nicht sagt, welche Gefahr mir droht!«, rief Ci.
Bo ging nachdenklich auf und ab.
»Ich verstehe dein Gefühl der Machtlosigkeit, Ci, aber du musst auch ihn verstehen. Der Kaiser hat dich um Hilfe gebeten, aber du kannst nicht verlangen, dass er dem Erstbesten all seine Geheimnisse anvertraut.«
»Wenn Ihr mir nicht erlaubt, weiterzukommen, bittet den Kaiser, mich zu entlassen. Ich werde Euch erzählen, was ich herausgefunden habe, und …«
»Ach! Du hast also etwas herausgefunden?«, fragte Bo überrascht.
»Weniger als ich hätte herausfinden können, aber mehr als mir gestattet worden ist.«
»Ich könnte anordnen, dass man dich auf der Stelle auspeitscht. Also spar dir deinen Sarkasmus lieber.«
Ci wusste, er war zu weit gegangen. Reumütig senkte er den Kopf und entschuldigte sich. Dann zog er seine Notizen heraus und ging sie noch einmal durch, während Bo sich neben ihn auf einen Schemel setzte.
Dann begann er, Punkt für Punkt seine Fortschritte darzulegen: die Entdeckung der kleinen Narben im Gesicht des dritten Toten, die Entdeckung der Jade-Essenz, deren Verwahrung der Nüshi des Palastes oblag, und die Enthüllung der Lüge, die Sanfter Delphin erzählt hatte.
»Was meinst du damit?« Bos Augen blitzten neugierig auf.
»In dem Bericht, den Ihr mir gegeben habt, stand, dass der Eunuch um die Erlaubnis gebeten hatte, seinen kranken Vater zu besuchen. Doch Sanfter Delphin hat seinen Vater nie besucht, weil sein Vater nie krank geworden ist. In Wirklichkeit brauchte er nur einen Vorwand, damit niemandem seine Abwesenheit verdächtig erschien.«
»Aber wie kannst du das wissen?«, wunderte sich Bo. »Sein Vater war oft krank.«
»In der Tat. Und jedes Mal, wenn das geschah, schrieb Sanfter Delphin darüber in sein Tagebuch. Er schrieb über seine Ängste und Befürchtungen, die Vorbereitungen des Besuches, die Geschenke, die er ihm mitbringen würde, und die Daten, an denen er reisen würde. Er vergaß nichts. Doch im letzten Monat ist davon überhaupt nicht die Rede, nicht einmal von einer Erkältung.«
»Vielleicht war es etwas Plötzliches. So dringend, dass er keine Zeit hatte, es zu notieren«, meinte der Beamte ohne rechte Überzeugung.
»So könnte es natürlich gewesen sein. Aber so war es nicht. Aus den Berichten geht hervor, dass Sanfter Delphin seine Bitte um Beurlaubung einen Tag nach dem ersten Mond des Monats einreichte, doch er fuhr nicht vor dem Abend des nächsten Tages, eine mehr als ausreichende Zeitspanne, um in sein Tagebuch einzutragen, was er vorhatte.«
»Und wohin führt uns das?«, fragte der Bo verwundert.
»Zu etwas, das Euch beunruhigen sollte. Sanfter Delphin kannte seinen Mörder, es muss jemand gewesen sein, dem er vertraute. Erinnert Euch, dass an seinem Körper keine Verteidigungsspuren zu finden waren, was bedeutet, dass er sich entweder nicht verteidigt hat oder dass er nicht erwartete, dass sein Mörder ihn umbringen würde. Der Grund, warum er eine Lüge erfand, um den Palast zu verlassen, muss ein sehr wichtiger gewesen sein, denn zweifellos wusste er, welche Strafe er zu befürchten hatte, wenn sich herausstellte, dass er gelogen hatte.«
»Was du da sagst, ist beunruhigend. Ich muss mit dem Kaiser darüber sprechen.«
27
Als Ci die Tür zur Bibliothek der Geheimarchive öffnete, zog sich sein Herz zusammen. Der Kaiser hatte eingewilligt, dass er die Ergebnisse der bisherigen Ermittlungen zu sehen bekam, im Austausch gegen einen Schwur auf Leben und Tod: Er durfte die Dokumente studieren,
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