Der Totenleser
Hinrichtungen?«
»Gerade heute Morgen haben wir einen erhängt«, meinte der Soldat aufgeräumt, den sie in ihrer Angelegenheit aufgesucht hatten. Ihm schien die Idee, einen Toten zu durchbohren, durchaus zu gefallen. »In der Vergangenheit haben wir oft die Leichname von Verbrechern zur Verfügung gestellt, um neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Akupunktur zu ermöglichen, aber so etwas habe ich noch nie gehört. Doch wenn es dem Wohl des Kaiserreiches dient, sind diese Kriminellen wenigstens zu etwas gut.«
Er führte sie zu dem Ort, wo der Leichnam des Unglücklichen lag. Der Verantwortliche der Anstalt teilte ihnen mit, dass die öffentliche Hinrichtung auf einem der Märkte stattgefunden hatte und dass die Leiche danach auf dem Gefängnishof zur Abschreckung für die anderen Gefangenen ausgestellt worden war.
Als der Soldat sich erkundigte, ob es nötig sei, den Mann zu entkleiden, verneinte Ci. Der Tote, den er untersucht hatte, war bekleidet ermordet worden, und er wollte die Ereignisse so getreu wie möglich reproduzieren. Er zog die Zeichnungen hervor und vergewisserte sich der Position der Wunden. Dann klemmte er eine Bambusklammer an das Hemd derLeiche, um die Stelle zu markieren, wo er die Lanze ansetzen musste.
»Wir müssen ihn aufrichten«, sagte er.
Mit Hilfe mehrerer Soldaten gelang es, den Leichnam hochzuheben und ihm einen Strick unter die Arme zu legen, den sie an einem Dachbalken befestigten. Schließlich baumelte der Leichnam vor ihnen wie ein Hampelmann. Ci packte die Lanze und zögerte einen kurzen Moment. Er konnte nicht anders, als Mitleid mit dem Kriminellen zu empfinden. Seine halbgeöffneten Augen schienen ihn aus dem Jenseits anzuschauen. Dann zwang er sich, an die toten Mädchen zu denken, die der Mann nach Aussage des Gefängnisdirektors auf dem Gewissen hatte, hob die Lanze und bohrte sie mit aller Kraft in seine Brust. Doch auf halber Strecke blieb die Lanze stecken, anstatt am Rücken wieder auszutreten.
Fluchend zog Ci die Lanze wieder heraus und machte sich bereit für einen zweiten Versuch. Er spannte jeden Muskel seines Körpers und konzentrierte sich wieder auf die Mädchen. Und wieder schaffte er es nicht, den Körper zu durchdringen. Er gab auf.
»Ihr könnt ihn herunternehmen«, sagte er kopfschüttelnd. Er dankte für die Hilfe und erklärte den Versuch für beendet.
* * *
Den Rest des Tages verbrachte er damit, seine Gedanken zu ordnen, bis Grauer Fuchs plötzlich vor ihm stand und sich nach seinen Fortschritten erkundigte. Ci zögerte keine Sekunde, ihm eine Lüge aufzutischen. Er würde sich kein zweites Mal hereinlegen lassen.
»Wie es scheint, war Sanfter Delphin ein ehrlicher Mann«, antwortete er. »Er lebte nur für seine Arbeit, aber viel mehr habe ich nicht herausgefunden. Du?«
»Soll ich ehrlich sein?«
Ci erinnerte sich an das letzte Mal, als sein Rivale ebendiese Worte zu ihm gesagt hatte. Er wusste, dass Grauer Fuchs bereit wäre, seinen eigenen Vater zu verraten, wenn es seinem persönlichen Vorankommen dienen würde.
»Diese Angelegenheit ist ein vergiftetes Geschenk«, sagte der Graue. »Sie überlassen uns diesen Fall ohne Hand und Fuß, weil sie selbst keine Lösung wissen, aber nicht als die Dummen dastehen wollen.«
»Ohne Hand und Fuß, das hast du schön gesagt«, spottete Ci. »Und was hast du vor?«
»Ich habe beschlossen, den anderen Fall zu verfolgen. Den des toten Fahnders.«
Ci erkundigte sich möglichst beiläufig, ob Nachricht aus Fujian gekommen sei.
»Nichts, die Post verspätet sich andauernd. Gestern ist ein Brief angekommen, den wir seit sechs Tagen erwarteten. Darum habe ich beschlossen, selbst hinzufahren.« Er machte eine Pause. »Ich brauche einen schnellen Erfolg, und ich werde nicht ruhen, bis ich Kaos Mörder gefunden habe.«
»Und Kans Befehle?«, wandte Ci vorsichtig ein.
»Ich habe mit ihm gesprochen, und er hat keine Einwände.« Er lächelte. »Das sind die Vorteile der Blutsbande. Du musst alleine zurechtkommen.«
Ci bereute es, überhaupt gefragt zu haben. Er wusste, dass er fortan keine ruhige Nacht mehr verbringen würde. Dennoch wollte er wissen, wann Grauer Fuchs gedachte aufzubrechen.
»Noch heute Abend. Je länger ich hierbleibe, desto eherkönnen sie mir Versagen in dem Fall der drei Toten unterstellen.«
Verdammt, dachte Ci. Die einzige Hoffnung, an die er sich nun klammern konnte, war, dass er, unbehelligt von Grauer Fuchs, die Mordfälle am Hof würde aufklären können und dass ihm das
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