Der Totenleser
wollte nicht glauben, was er hörte – doch die Wache gab den Weg nicht frei. Wenn der Kaiser will, dass ich mit seinen Ermittlungen vorankomme, muss er seinen ehrenwerten Kan, den Einäugigen, in seine Schranken weisen, dachte Ci wütend. Der Strafrat schien mehr damit beschäftigt zu sein, ihm Steine in den Weg zu legen, als ihm zu helfen.
Eilig begab er sich zu den Empfangsräumen des Privatsekretärs des Kaisers. Ci wies sich aus und bat um eine Audienz bei Seiner Kaiserlichen Hoheit, Nin Zong. Der Sekretär sah ihn an wie eine lästige Fliege. Es war nicht nur ungewöhnlich, sondern eine regelrechte Beleidigung, dass ein einfacher Arbeiter eine Audienz beim Kaiser verlangte.
»Es gibt Leute, die sind für geringere Verbrechen gestorben«, sagte er, ohne auch nur den Blick zu heben.
Ci sagte sich, dass sie ihn längst umgebracht hätten, wenn sie ihn nicht noch gebraucht hätten. Und sie brauchten ihnnoch! Also beharrte er auf seinem Anliegen,bis die Empörung des Sekretärs so groß wurde, dass er die Wachen rief. Doch in ebendiesem Moment kündigte ein Diener das kaiserliche Gefolge an, und die Wachen mussten strammstehen.
Ci nutzte die Gelegenheit, riss sich los und warf sich vor dem Kaiser auf den Boden. Sofort trat Kan aus dem Gefolge und ordnete scharf an, ihn festzunehmen, doch Nin Zong hielt ihn zurück.
»Eine seltsame Art, vor deinem Kaiser zu erscheinen.«
Die Ungehörigkeit seines Verhaltens war Ci bewusst, und er wagte es nicht, aufzublicken. Er flehte um Nachsicht, es handele sich um eine Angelegenheit im Zusammenhang mit den Verbrechen, die keinen Aufschub dulde.
»Hoheit, das könnt Ihr nicht dulden!«, rief der Einäugige.
»Für Bestrafung bleibt später noch genug Zeit.« Dann wandte er sich streng an Ci. »Hast du etwas herausgefunden? Sprich!«
Ci wusste, dass er nun alles auf eine Karte setzen musste, wenn er etwas erreichen wollte.
»Eure Hoheit, ich denke, dass jemand versucht, meine Arbeit zu sabotieren«, brachte er schließlich hervor.
»Sabotieren? Was meinst du?« Er gab der Wache einen Wink, sich ein paar Schritte zurückzuziehen.
»Als ich gerade den Palast verlassen wollte, um einige Besorgungen zu tätigen, versperrte man mir den Weg«, flüsterte er beinahe. »Das Siegel hat mir gar nichts genützt, es gab offenbar andere Anordnungen.«
Der Kaiser blickte hinüber zu seinem einäugigen Beamten, der Cis Worte lediglich mit einem abfälligen Schnauben zur Kenntnis nahm. »Sonst noch etwas?«
Ci holte tief Luft. Jetzt oder nie, beschwor er sich.
»Ja, Majestät«, begann er. »In den Berichten, die man mirüberlassen hat, sind die Untersuchungen nicht beschrieben, welche die Richter des Palastes durchgeführt haben. Es gibt keinen einzigen Hinweis darauf, wo und wann die Leichen gefunden worden sind. Es gibt keine Zeugenaussagen, keine Notiz, ob jemand als vermisst gemeldet wurde, nichts über die Verdächtigen, keinen Hinweis auf ein Motiv. Ich befragte daraufhin einen engen Freund von Sanfter Delphin, doch musste ich feststellen, dass man ihn offenbar zu Stillschweigen verpflichtet hatte.«
Der Kaiser schwieg einen Augenblick, dann zischte er gefährlich: »Und darum glaubst du, dass du mich belästigen kannst, indem du dich hier vor mich wirfst wie ein wildes Tier?«
»Hoheit, ich …« Blitzartig wurde Ci die Torheit seines Verhaltens bewusst. Doch nun konnte er nicht mehr zurück. »Strafrat Kan sagte mir, dass niemand die privaten Gemächer von Sanfter Delphin betreten habe, doch das stimmt nicht. Davon konnte ich mich selbst überzeugen. Wie soll ich meine Arbeit tun, wenn ich falsche oder keine Informationen bekomme? Ich darf die Konkubinen nicht vernehmen, ich habe keinen Zugriff auf die Berichte, ich kann den Palast nicht verlassen …«
»Jetzt habe ich aber genug von deiner Impertinenz. Wachen! Bringt ihn in sein Zimmer.«
Ci leistete keinen Widerstand, und während die Wachen ihn abführten, sah er aus den Augenwinkeln Kans falsches Lächeln.
* * *
Die Wachen schlossen ihn in seiner Kammer ein, und er hörte, wie sie vor seiner Tür Aufstellung nahmen. Doch nacheiner Weile öffnete sich die Tür, und Bo betrat grußlos den Raum.
»Ihr jungen Leute, was denkt ihr euch eigentlich?«, rief er zornig. »Ihr kommt daher mit eurer Besserwisserei, euren neuen Techniken und Expertenanalysen, präsentiert euch vor den Älteren eitel und überlegen, vertraut auf eure Fähigkeit, das Unmögliche herauszufinden, und vergesst dabei die elementarsten Regeln des
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