Der Totenleser
Stellen war sie bereits von den Muskeln gelöst und dünn wie Papier. Doch auf dem Gesicht des jüngeren Mannes, von dem er das Porträt hatte anfertigen lassen, fielen ihm unzählige kleine Narben auf, klein wie Mohnsamen; allein eine quadratische Fläche um die Augen war davon frei. Sorgfältig säuberte er die am besten erhaltene Stelle der Haut und untersuchte sie gründlich. Die winzigen Male schienen älteren Datums zu sein. Er notierte es in seinem Heft und fertigte eine Skizze an. Er kontrollierte, ob dieselben Narben auch an den Händen auftraten.Dann griff er nach der Lanze und richtete die Spitze auf die klaffende Wunde in der Brust. Vorsichtig setzte er die Waffe an einer Stelle an, dann einer anderen und an noch einer weiteren, bis der Stab seinem Druck nachgab und beinahe wie von selbst in den Körper eindrang. Als die Lanze schließlich stecken blieb, bat er Bo, ihm dabei zu helfen, den Leichnam in eine seitliche Lage zu bringen. Nachdem ihnen dieses Manöver gelungen war, stellte Ci zufrieden fest, dass er richtig vermutet hatte: Die Spitze der Lanze trat aus der kreisrunden Wunde am Rücken wieder aus. Es handelte sich nicht um zwei verschiedene Verletzungen, sondern um eine einzige, mit Ein- und Austrittsloch. Er wollte die Lanze gerade wieder herausziehen, als ein Glitzern an ihrer Spitze seine Aufmerksamkeit weckte. Vorsichtig griff er nach einer Pinzette und zog einen Splitter aus dem getrockneten Blut. Nachdem er ihn eingehend untersucht hatte, war er überzeugt, dass es sich um einen Steinsplitter handelte. Seine Herkunft konnte er nicht bestimmen, aber er verwahrte ihn als Beweisstück.
»Ich brauche eine andere Leiche, um meine Theorie zu überprüfen«, sagte er zu Bo.
Der Kaiserliche Beamte schlug ihm vor, auf dem Friedhof von Lin’an danach zu suchen, doch in Erinnerung an Xu, den Wahrsager, drängte Ci auf eine andere Lösung. Bo versprach, darüber nachzudenken.
Aus seinen Unterlagen zog Ci schließlich zwei große gefaltete Blätter heraus: Eines zeigte einen menschlichen Körper in Vorderansicht, das andere in Rückansicht. Beide Skizzen waren mit weißen und schwarzen Flecken gespickt, welche die verschiedenen anatomischen Teile des Körpers darstellten. Bo betrachtete sie interessiert.
»Ich benutze sie als Schablone«, erklärte Ci. »Die schwarzen Flecke bezeichnen die Stellen, an denen tödliche Wundenbeigebracht werden können, die weißen die Stellen, an denen ein ernsthafter Schaden angerichtet werden kann.«
Er breitete die Blätter auf dem Boden aus und zeichnete den genauen Ort und die Form der Verletzungen des dritten Toten ein.
Als er damit fertig war, säuberte er die Lanze, sammelte das Papier ein, und nachdem er die Einwilligung zur Einäscherung der Leichen gegeben hatte, verließ er zusammen mit Bo den Palast.
* * *
Das Zentralkrankenhaus war eine Art Farm für Todkranke, wo täglich so viele von der Pritsche in die Kiste wanderten wie auf einem Bauernhof Eier in den Korb. Ci hatte gedacht, dass dies der ideale Ort war, um einen Leichnam zur Untersuchung zu bekommen, doch der Direktor informierte sie, dass die letzten Toten schon von ihren Familien abgeholt worden seien. Bo wusste, dass Ci ausprobieren wollte, welche Wunde eine Lanze verursachen würde, die man durch einen menschlichen Körper stieß. Als er darum vorschlug, einen Kranken als Ersatz zu nehmen, sah Ci ihn entsetzt an. Der Beamte fügte hinzu, dass derjenige, der sich freiwillig dafür meldete, ein ehrenvolles Begräbnis bekäme und eine Entschädigung für seine Familie, und obwohl Ci sich weigerte, trug Bo dem Direktor auf, das Angebot unter die Leute zu bringen. Zu Cis Erstaunen akzeptierte der Leiter den Vorschlag ohne Bedenken.
Sie gingen von einem Zimmer zum nächsten, auf der Suche nach einem geeigneten Kandidaten, doch Ci lehnte jeden als zu gesund ab. Schließlich schlug der Direktor ihnen einen Mann mit schlimmen Verbrennungen vor, der ander Schwelle zwischen Leben und Tod dahinsiechte, aber Ci hielt dagegen, dass die Verbrennungen das Ergebnis beeinträchtigen würden. Sie gingen weiter bis zu einer Matte, auf der ein Arbeiter lag, dem schon die Farbe des Todes im Gesicht stand. Der Mann war bei einem Einsturz verschüttet worden, und Ci sah, wie der Schmerz ihn in seinen letzten Momenten auffraß. Aber auch ihn wollte Ci nicht seinem Experiment unterziehen.
Als sie das Krankenhaus schließlich unverrichteter Dinge verließen, fragte Ci plötzlich: »Und was ist mit den
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