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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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des Raums zog sich ein gigantisches Bücherregal voller Abhandlungen über juristische Belange. Erschlagen von so viel Wissen, blieb Ci davor stehen. Er studierte die Titel der Schriften und musste feststellen, dass nicht alle von der Juristerei handelten. Eine Abteilung war vollständig dem Salzhandel gewidmet. Ci wusste, dass Feng seine Richtertätigkeit aufgegeben hatte, um sich auf die bürokratischen Aufgaben rund um das Salzmonopol zu konzentrieren. Dennoch erschien ihm eine monographische Sammlung von diesen Ausmaßen ein rein berufliches Interesse zu übersteigen. Die meisten Bücher handelten von Abbau, Verarbeitung und Handel mit dem Mineral, ein kleinerer Teil widmete sich den Eigenschaften von Salz als Würz- und Konservierungsmittel oder als Medikament.Plötzlich erregte ein grün eingeschlagenes Werk seine Aufmerksamkeit. Neugierig zog er es hervor und konnte einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken: In seinen Händen hielt er eine Kopie des Ujingzongyao , des Kompendiums über militärische Techniken, von dem Feng behauptet hatte, es nicht zu kennen. Fiebrig stöberte Ci weiter und stieß wenig später auf ein Werk, das ein wenig hervorstand, vermutlich, weil es erst kürzlich konsultiert worden war. Er schlug es auf, und schon auf der ersten Seite stockte ihm der Atem.
    Dabei war es nicht der Inhalt, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es handelte sich um nichts weiter als eine Auflistung von Käufen und Verkäufen verschiedener Posten Salz, doch er erkannte den Strich der Zeichen wieder, als hätte er sie selbst geschrieben: Es war die Handschrift seines Vaters.
    Fieberhaft studierte er Seite um Seite und stellte fest, dass die Bilanzen um ein Jahrfünft zurückreichten. Und dass er diese Zahlen kannte: Sie stimmten exakt mit denjenigen in den Büchern von Sanfter Delphin überein. Plötzlich fielen ihm zwei Markierungen auf, beide kennzeichneten die Seiten, auf denen ungewöhnliche Schwankungen in der Bilanz auftauchten. Auch im Archiv von Sanfter Delphin waren Ci diese Schwankungen aufgefallen. Mit dem Tag, an dem ein maximaler Verlust erreicht war, brach die Buchführung ab.
    Was hatte all das zu bedeuten? Ratlos überprüfte Ci die Daten noch einmal. Sein Kopf fühlte sich an, als stünde er kurz davor, zu explodieren.
    Auf einmal hörte er ein Geräusch. Sofort klappte er das Buch zu, beeilte sich, es an seinen Platz zurückzustellen, und setzte sich wieder auf sein Bett. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür. Es war Feng, der mit einem Teller voller Früchte das Zimmer betrat.
    Mit Schreck sah Ci, dass sich eine Seite aus dem Buch gelöst hatte und nun vor dem Regal lag. Feng stellte das Tablett auf dem Bett ab.
    »Ich dachte, eine kleine Stärkung könnte dir guttun … Im Palast gibt es keine Neuigkeiten. Hast du die Nachricht geschrieben?«
    »Noch nicht«, log Ci. »Aber ich werde mich gleich daransetzen.«
    Er ging hinüber zum Schreibtisch und begann, ein neues Papier aufzusetzen.
    »Ci, du zitterst ja. Ist etwas geschehen?«
    »Ich habe nur Angst vor der Verhandlung.« Er reichte Feng die neue Vollmacht.
    »Iss ein bisschen Obst«, sagte Feng. »In der Zwischenzeit werde ich die Handkanone holen.«
    Ci nickte und atmete erleichtert auf, als der Richter sich zum Gehen wandte.
    »Bist du sicher, dass es dir gutgeht?«, fragte Feng besorgt.
    »Ja, natürlich. Geht nur.«, versicherte Ci.
    Feng drehte sich wieder um, doch ehe er aus der Tür war, hielt er plötzlich inne und stutzte. Ci wurde heiß und kalt zugleich. Er beobachtete, wie Feng ein Buch, das Ci in der Hand gehabt hatte, an eine andere Stelle sortierte. Dann verabschiedete er sich und ging.
    Ci wartete einen Moment, ob Feng noch einmal zurückkommen würde, dann stürzte er sich auf das herausgelöste Papier. Er stellte fest, dass es sich nicht etwa um eine lose Seite handelte, sondern um einen Brief seines Vaters, den Feng im Buch aufbewahrt hatte. Mit klopfendem Herzen faltete Ci ihn auseinander und begann zu lesen.
    Ehrenwerter Feng,
    obwohl es noch zwei Jahre dauert, bis dieTrauerzeit beendet ist, um deretwegen ich meinen Posten verlassen musste, wollte ich Euch meinen Wunsch mitteilen, unverzüglich in Eure Dienste zurückzukehren.Wie ich Euch bereits im vorangegangenen Schreiben mitteilte, hofft mein Sohn Ci, sein Studium an der Universität von Lin’an fortsetzen zu können, und ich teile diese Hoffnung.
    Um Eurer Ehre willen und meiner eigenen kann ich nicht zulassen, dass man mich einer

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