Der Totenleser
Geschwätz wäre. Die weiteren Stunden bis zum Prozess brachte er damit zu, sich selbst zu verabscheuen und Feng zu hassen.
Als der Moment gekommen war, aufzubrechen, musste Ci sich zusammennehmen, um Haltung zu bewahren und seine Gefühle gegenüber dem Richter nicht zu zeigen. Feng erwartete ihn in seiner alten Richterrobe. Nur mit Mühe brachte Ci einen Gruß über die Lippen, doch Feng schien keinen Verdacht zu schöpfen.
Draußen standen vier Männer der Kaiserlichen Wache stramm, um sie in den Gerichtssaal zu führen. Beim Anblick ihrer Waffen vergewisserte sich Ci, dass er seine eigenen gut versteckt bei sich trug: das Prozessbuch, den Brief seines Vaters, das Säckchen mit Schwarzpulver und die Steinkugel aus Fengs Schublade. Er sah sich um, doch nirgends konnte er Blaue Iris entdecken. Sie war nicht da.
Als sie den Gerichtssaal betreten hatten, nahm Feng seinen Platz neben den Würdenträgern des Hohen Gerichts ein, die die Anklage leiteten. An ihrer Seite saß auch Grauer Fuchs, triumphierend gab er vor den Würdenträgern damit an, die Verhaftung Cis veranlasst zu haben.
Man befahl dem Angeklagten, vor dem leeren Thron des Regenten niederzuknien. Dann kündigte ein Gongschlag die Ankunft des Kaisers Nin Zong an. In eine rote, mit goldenen Drachen verzierte Robe gekleidet hielt er Einzug – eskortiert von seinem Gefolge, das der Oberste Rat der Riten mit dem neuen Strafrat anführte. Ci verharrte in seiner Verbeugung, bis einer der alten Würdenträger hervortrat, um Seine Himmlische Majestät anzukündigen und die Anklage zu verlesen.
»Als ältester Justizbeamter des Palastes und mit der Erlaubnis unseres großmütigen Monarchen Nin Zong, Sohn des Himmels und Herrscher der Erde, dreizehnter Kaiser der Song-Dynastie, erkläre ich am achten Mond im Monat des Granatapfels der ersten Jahre der Ära Jiading und im neunzehnten Jahr seiner würdigen und weisen Regentschaft die Verhandlung gegen Song Ci für eröffnet. Song Ci wird der Verschwörung, des Verrats und des Mordes am Kaiserlichen Rat Chou Kan angeklagt, was gleichbedeutend ist mit einem Verrat am und einem Anschlag auf den Kaiser selbst.« Er machte eine Pause. »In Übereinstimmung mit den Gesetzenunseres Strafgesetzbuches, des Songxingtong , hat der Angeklagte das Recht, sich selbst zu verteidigen, und solange er kein Geständnis ablegt, kann er weder durch eine andere Person gerettet noch verurteilt werden.«
Ci kniete immer noch am Boden und hörte schweigend zu, während er im Kopf seine Ausführungen zu ordnen versuchte, die er gleich vorbringen musste. Als der Alte geendet hatte, erteilte er zunächst Grauer Fuchs das Wort. Grauer Fuchs begrüßte den Kaiser und wartete ab, dass man ihm die Redeerlaubnis erteilte. Dann räusperte er sich bedeutsam und zog eine Reihe von Papieren hervor,die er ordentlich auf dem Tisch ausbreitete, den er sich mit Feng teilte. Dann erklärte er mit hochmütiger Stimme den anderen die Herkunft des Angeklagten und begann, die verschiedenen Umstände zu erläutern, die nach seiner Meinung Cis Schuld eindeutig bewiesen.
»Bevor ich die einzelnen Beweise anführe, erlaubt mir, dass ich eine Kurzbiographie entwerfe, die Euch den wahren Charakter dieses Betrügers enthüllt.« Er sah hinüber zu Ci. »Ich hatte das Pech, den Angeklagten in der Ming-Akademie kennenzulernen. Dort hat er nicht nur einmal, sondern unzählige Male seine Unfähigkeit bewiesen, Gesetze und Normen zu respektieren. Darum beschloss eine Versammlung von Professoren seine Exmatrikulation, was nur durch die interessengeleitete Fürsprache seines homosexuellen Professors verhindert wurde.«
Man sah Grauer Fuchs an, dass es ihm Vergnügen bereitete, vor dem Kaiser nicht nur Cis Glaubwürdigkeit zu untergraben, sondern auch die aller, die möglicherweise zu seinen Gunsten aussagen könnten – in diesem Fall die Meister Mings.
»Das, was in den Augen eines Laien als ungebührlichesVerhalten durchgehen mag«, fuhr Grauer Fuchs fort, »ist in Wirklichkeit ein Zeichen seiner Aufsässigkeit und des Hasses, den er in seinem Geist nährt. Man muss wissen, dass die Akademie den Beschuldigten in einem Akt größter Menschlichkeit aus der Bedürftigkeit errettet hatte, um ihn zu unterweisen und zu nähren. Wie Ci ihr diese Großzügigkeit dankte, habt Ihr bereits vernommen: wie ein unzähmbares wildes Tier.« Sein Gesicht wurde hart. »Damit will ich denjenigen, die mir zuhören, den wahren Charakter eines Mannes enthüllen, der von Egoismus und
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