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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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sich mit der Vollmacht zur Akademie begeben, um das Beweismittel zu holen.
    »Ruh du dich in der Zwischenzeit ein wenig aus!«, sagte er zum Abschied.
    Als Feng gegangen war, stieß Ci einen tiefen Seufzer aus.Ihm war, als erwachte er allmählich aus einem quälenden Alptraum, der ihm die Luft zum Atmen nahm.
    * * *
    Nachdem Ci die Vollmacht für Feng verfasst hatte, legte er sich wieder aufs Bett. Doch er fand keine Ruhe. Seine Gedanken und Zweifel drehten sich in einer Endlosschleife um Blaue Iris. Warum traf sie sich heimlich mit Bo?
    Während er auf Fengs Rückkehr wartete, bat er die junge Dienerin, die ihn pflegte, dass sie ihm das Ingmingji aus seinem Zimmer bringen möchte, das Buch über juristische Prozesse aus Mings Bibliothek. Da das Gesetz ihn dazu zwang, sein eigener Verteidiger zu sein, war die Lektüre dieses Werkes womöglich hilfreicher als der beständige Versuch, ein Rätsel mit lauter Unbekannten zu lösen.
    Fieberhaft blätterte er das Manuskript durch, überflog die Kapitel, die von den zulässigen Strafen für korrupte Beamte handelten, und konzentrierte sich auf die Prozesse. Ming hatte die repräsentativsten Streitfälle jedes einzelnen Rechtsgebiets zusammengetragen: Prozesse über Erbschaftsangelegenheiten, Handelsbeziehungen und Feldgrenzen. Im letzten Kapitel schilderte Ming außergewöhnliche Strafprozesse, die entweder durch die Tragweite des Verbrechens oder aber die Weisheit des vorsitzenden Richters herausstachen.
    Mit der Präzision eines Chirurgen sezierte Ming in seiner Schrift jede Phase der erwähnten Fälle, von der Beschreibung des Verbrechens über die Anklage, die richterliche Ermittlung, die zweite Untersuchung, die Folter, die Gerichtsverhandlung, den Urteilsspruch, die Berufung bis zur Hinrichtung. Ebenso wie jene, die ein Attentat auf den Kaiser oder ein Mitglied seines Gefolges verübten, wurden auch alle, diemit Waffenhandel zu tun hatten, mit dem Tod bestraft. Das war keine Neuigkeit, die Ci beruhigte.
    Er las weiter, und plötzlich traf ihn eine Darlegung Mings wie ein Blitzschlag. In perfekter Kalligraphie stand dort geschrieben:
    Bericht über die Ermittlungen des ehrenwerten Richters Feng im Zusammenhang mit der Enthauptung eines Bauern auf einem Reisfeld und die erstaunliche Lösung des Falls dank der Beobachtung einiger Fliegen auf einer Sichel. Geschehen während des dritten Mondes des siebenten Monats des dreizehnten Jahres der Regierung des Kaisers Xiaozong.
    Ci rieb sich die Augen. Er vergewisserte sich, dass er das Datum richtig gelesen hatte. Ihm war, als legte sich eine eisige Hand um sein Herz.
    Detailliert beschrieb Ming, wie der blutjunge Richter Feng mit einer unglaublichen List den Schuldigen unter Dutzenden Verdächtigen ausmachte und dadurch zu Ruhm und Anerkennung gelangte. Feng hatte angeordnet, dass man alle Sicheln, die als Tatwerkzeug in Frage kamen, in der Sonne aufreihte. Dann legte er eine Scheibe verdorbenen Fleisches aus, um die Fliegen anzulocken, und als sich darüber ein Schwarm gebildet hatte, nahm er das Fleisch wieder weg. Woraufhin die Insektenwolke zu der einzigen Klinge flog, die noch unmerkliche Spuren von Blut aufwies.
    Ci schleuderte das Manuskript von sich, als wohnte ihm ein Dämon inne. Seine Hände zitterten vor Angst. Xiaozong war der Großvater des aktuellen Kaisers. In seinem dreizehnten Regierungsjahr musste Feng um die dreißig Jahre alt gewesen sein. Und doch beschrieb Ming exakt denselben Vorgang, dem er staunend in seinem Dorf beigewohnt hatte undder am Ende zum Tod seines Bruders Lu geführt hatte. Die Anklage gegen seinen Bruder war also weder einer zufälligen Entdeckung geschuldet noch dem unglaublichen Scharfblick Fengs. Im Gegenteil, das Ergebnis war vorhersehbar gewesen, jemand musste darauf hingezielt haben. Jemand, der dieselbe Methode schon einmal angewendet hatte. Und nur einer kam in Frage: Feng.
    Aber warum hatte er das getan?
    Mit einem Mal wurde Ci klar, dass er unrettbar verloren war. Verzweifelt trat er ans Fenster, entschlossen, zu springen. Doch er traute seinen Augen nicht: Vor seinem Fenster standen zwei Wachen. Ci verzog das Gesicht. In seinem Zustand wären die Chancen eines erfolgreichen Fluchtversuchs ohnehin gering gewesen.
    Wie ein eingesperrtes Tier im Käfig lief er in Fengs Privatgemach auf und ab. Auf dem Schreibtisch lag die Vollmacht, die er für Sui geschrieben hatte – wütend riss er sie entzwei und versteckte die beiden Hälften in seinem Ärmel.
    Über die gesamte Längsseite

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