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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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wie wild zu pochen, als er Bo und Blaue Iris erkannte.
    Ci atmete tief durch und schleppte sich wieder zum Bett. Wem konnte er noch vertrauen außer Feng? Kurze Zeit später hörte er, wie jemand an die Tür klopfte. Es war Blaue Iris.
    »Wie geht es dir?«, erkundigte sie sich kühl.
    Ci sah sie an, ihre reglose Miene, als stünde sie vor einem Unbekannten. Blaue Iris näherte sich langsam dem Rand des Bettes und stellte eine Teekanne ab, die sie auf einem Tablett hereingetragen hatte.
    »Mir geht es gut, danke.« Er räusperte sich. »Wir hatten noch keine Gelegenheit, über das zu sprechen, was in der Nacht passiert ist«, sagte er schließlich.
    »Was meinst du?«
    »Ich meine die Nacht, in der wir zusammen waren. Ist Euer Gedächtnis so schlecht, oder wart Ihr mit so vielen zusammen, dass Ihr Euch nicht erinnert?«
    Sie wollte ihm eine Ohrfeige geben, doch er hielt ihre Hand fest.
    »Lass mich los!«, schrie sie. »Lass mich los, oder ich rufe meinen Mann!«
    Ci ließ die Hand in dem Moment sinken, als Feng durch die Tür hereinkam. Beide hüstelten verlegen, und sie trat einen Schritt zurück. Der Richter geleitete seine Frau hinaus, dann schloss er die Tür und setzte sich zu Ci ans Bett. Das Herz schlug Ci bis zum Hals. Was hatte Feng gehört? Würde er ihn nun zur Rede stellen?
    Doch Feng lächelte. Er freue sich, dass Ci schon besser aussehe als noch am Morgen. Dann seufzte er.
    »Du weißt, dass unser Justizsystem die Anwesenheit von Anwälten verbietet. Du wirst dich selbst verteidigen müssen, genau wie jeder andere Verdächtige, und wir haben nur noch diesen Nachmittag, um deine Strategie zu erarbeiten.«
    Ci überlegte, ob er Feng von dem Treffen zwischen Bo und Blaue Iris erzählen sollte, doch er bezweifelte, dass er damit etwas anderes erreichen würde, als die Untreue seiner Frau ans Licht zu bringen. Außerdem, wenn er den Kaiser überzeugen wollte, musste er etwas Schlüssigeres finden. Doch was? Feng schien seine Gedanken zu lesen.
    »Versuche dich zu beruhigen. Du musst jetzt sein wie ein See im Sturm: Auch wenn das Unwetter seine Oberfläche aufwühlt, bleibt er in der Tiefe immer ruhig.«
    Ci schloss die Augen, um die nötige Ruhe zu finden. Er tauchte in die Tiefen seines Geistes, bis er zu der Einsicht gelangte, dass es ein Fehler war, seine gesamte Verteidigung auf dem Mord an Kan aufzubauen. Also konzentrierte er sich darauf, was für ihn das große Rätsel war. Seine Nachforschungen legten den Schluss nahe, dass alle Morde von ein und demselben Täter begangen worden waren, so dassder Schlüssel in dem Zusammenhang zwischen ihnen liegen musste. Was verband den Eunuchen und den Alten mit den verätzten Händen, den Porträtierten und den Bronzefabrikanten – außer dem Hauch eines Parfüms oder der eigenartigen Form der Wunde in ihren Oberkörpern?
    Vor seinem inneren Auge zogen die geisterhaften Gestalten der Ermordeten vorüber.
    Zuerst sah er Sanfter Delphin, über seine Kassenbücher gebeugt, in denen er den Salzhandel registrierte. Der Eunuch notierte die Posten, die Überschüsse, die Lieferungen und die Preise. Irgendwann stieß er auf eine Unregelmäßigkeit. Danach änderten sich die Zahlen, und die Gewinne sanken.
    Es folgte der Alte mit den vom Salz zerfressenen Händen. Er stellte ihn sich vor, wie er die Hände in dem pulverisierten Mineral vergrub. Doch unter seinen Fingernägeln waren schwarze Kohlerückstände gewesen. Er arbeitete also mit beiden Produkten. Und mischte sie mit dem Geschick eines taoistischen Alchemisten.
    Dann zog der Mann, dessen Porträt er hatte zeichnen lassen, an ihm vorbei, seine Narben stimmten mit denen des Diebes überein, der sich bei einer Explosion verletzt hatte.
    Schließlich schob sich über dieses Bild das des selbstgefälligen Bronzefabrikanten. Der, dessen Werkstatt am Tag seines Todes abgebrannt war und der ein seltsames Zepter hinterlassen hatte.
    Ci durchfuhr es wie ein Blitz.
    Endlich sah er es! Das Band, das die Morde zusammenhielt! Das Salz, die Kohle, die Exporte, die Explosion … Sie waren die Zutaten eines einzigartigen Gemischs, das ebenso selten wie vernichtend war.
    Voller Aufregung rief er nach Feng.
    »Versteht Ihr nicht? Der Schlüssel zu den Verbrechen liegt weder im Vorgehen des Mörders noch in dem Parfüm, das benutzt wurde, um den Geruch der Wunden zu überdecken! Die Verstümmelungen sollten nicht dazu dienen, die Identität der Toten zu verschleiern, sondern ihre Berufe. Es sind die Berufe, die zum Mörder

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