Der Totenleser
Niederträchtigkeit beschuldigt, die ich nicht begangen habe, und ich kann keinenTag länger in diesem Dorf verweilen, während Ihr Euch mit den Gerüchten über meineVeruntreuung herumschlagen müsst. Die heimtücki schen Schmäher, die mich der Korruption beschuldigen, entmutigen mich nicht. Ich bin unschuldig, und das möchte ich beweisen. Glücklicherweise verfüge ich über Kopien der Posten, auf denen die Unregelmäßigkeiten festgehalten sind, die ich in Euren Kassenbüchern fand, weshalb es nicht schwierig sein wird, jegliche Anschuldigung zu entkräften.
Es ist nicht notwendig, dass Ihr ins Dorf kommt.Wenn Ihr Euch gegen meine Rückkehr aussprecht, um mich zu schützen, bitte ich Euch, mir zu erlauben, nach Lin’an zu kommen und meine Unschuld zu beweisen.
Euer ergebener Diener.
Ci war vor Verblüffung wie gelähmt. Diesem Dokument zufolge war sein Vater unschuldig, und die Vorwürfe, die gegen ihn vorlagen, erschienen unhaltbar. Und Feng kannte dieses Dokument! Als Ci ihm gestanden hatte, dass ihm das Eignungszertifikat für die Universität verwehrt worden war, hatte Feng jedoch mit keiner Silbe erwähnt, dass es Zweifel an dem unehrenhaften Verhalten seines Vaters gab.
Ci versuchte sich zu erinnern, was während Fengs Anwesenheit im Dorf geschehen war. Wenn sein Vater fest entschlossen gewesen war, nach Lin’an zurückzukehren, warum hatte er seine Meinung geändert? Welchem schrecklichen Druck musste er sich ausgesetzt gefühlt haben, dass er über Nacht auf seine Ehre verzichtete und ein Verbrechen auf sich nahm, das er nicht begangen hatte? Und warum war Feng ins Dorf gekommen, entgegen dem expliziten Wunsch seines Vaters? Und wieso hatte er seinen Bruder beschuldigt?
Tränen liefen ihm über die Wangen. Er hatte sich von seinem Vater abgewendet, hatte ihn zum Schandfleck der Familie erklärt … Seinen Vater, der bis zum letzten Atemzug für ihn gekämpft hatte! Er, und nicht sein Vater, war der Schandfleck der Familie.
Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigen konnte.
Nachdenklich faltete er den Brief zusammen und versteckte ihn unter seinem Hemd, an seinem Herzen. Dann biss er die Zähne zusammen und fasste einen Plan.
Als Erstes durchsuchte er Fengs Zimmer bis in den letzten Winkel. Er zog Bücher hervor, auf der Suche nach weiteren Dokumenten, hob Bilder an und rollte Teppiche zurück – doch er fand nichts, was ihm von Nutzen gewesen wäre. Schließlich ging er hinüber zum Schreibtisch. Die oberen Schubladen enthielten ein paar Schreibinstrumente, Siegel und weißes Papier, nichts, was seine Aufmerksamkeit weckte, abgesehen von einem kleinen Säckchen mit schwarzem Pulver, das er anhand des Geruches als Schwarzpulver identifizierte. Die untere Schublade war verschlossen. Einen Moment lang überlegte Ci, sie mit Gewalt aufzubrechen, doch er wollte keinen Verdacht erregen. Also zog er die oberen Schubfächer heraus, um zu prüfen, ob es eine andere Lösung gäbe. Unglücklicherweise verschloss eine Holzplattedas letzte Fach – bis auf einen winzigen Spalt. Ci griff nach dem Obstmesser, das auf dem Teller mit den Früchten lag, den Feng ihm gebracht hatte. Er begann das Brett zu bearbeiten, und tatsächlich wurde der Spalt größer und größer, bis er so breit war, dass Ci hineinfassen konnte. Seine Finger ertasteten undefinierbare Gegenstände aus einem kalten Material, doch bekamen sie sie nicht zu greifen. Grimmig stemmte Ci sich mit der Schulter gegen den Schreibtisch und kippte ihn auf die Hinterbeine. Mit der Neigung rutschte der Inhalt der Schublade nach hinten. Wie die Klauen eines Raubvogels schlossen sich seine Finger um die Beute. Er zog seine Hand wieder hervor und öffnete sie – es waren die Scherben der grünen Terrakottaform, die aus seinem Zimmer verschwunden war. Dazwischen lag eine kleine Steinkugel.
Eilig räumte er alle Dinge wieder an ihren Platz zurück, als hätte nicht einmal eine Brise sie gestreift. Dann widmete er sich seinen Funden. Die Scherben brachten keine Neuigkeit, hingegen entdeckte er, dass an der Steinkugel Blut und winzige Holzsplitter klebten. Ihre Oberfläche war beschädigt, ein Stück war herausgebrochen. Cis Herz klopfte. Er erinnerte sich an den Fund in der Brust des zweiten Toten – ein Steinsplitter, den er zunächst nicht hatte zuordnen können. Er bedauerte, sein Notizbuch und seine Beweisstücke in die Obhut von Sui gegeben zu haben. Doch er war sich sicher, dass jener Steinsplitter und die beschädigte Kugel in seiner Hand
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