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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Arbeit. Im letzten Dämmerlicht hob er Körbe und Holzplanken auf, bis ihn Kraft und Mut verließen – das Ersparte blieb unauffindbar. Schließlich streckte er sich neben seiner Schwester auf dem Boden aus und schloss die Augen. Er befand sich in einem unlösbaren Dilemma: Wenn sein Vater in sechs Jahren Arbeit nur hunderttausend Qian zusammengebracht hatte, woher sollte er die vierhunderttausendnehmen, die der Hüter der Weisheit verlangte, um seinen Bruder zu befreien?
7
    Ein neuerlicher Wolkenbruch weckte Ci kurz vor Anbruch des nächsten Tages. Er verdammte alle Gewittergötter und suchte hastig alle Habseligkeiten zusammen, die er aus den Ruinen gerettet hatte: Die Bücher seines Vaters, zwei Eisentiegel, verschiedene Töpfe, Decken aus halb verkohlter Wolle, einige Kleidungsstücke, zwei Klingen mit verbranntem Griff und eine schartige Sense. Er schätzte, dass er für all das gerade einmal zweitausend Qian auf dem Markt bekommen würde. Falls überhaupt jemand die Dinge kaufen wollte. Er hatte außerdem einen Sack Reis gerettet, einen Beutel voller Teeblätter, eine Dose Salz und Mei Meis Medizin, dazu einen wertvollen geräucherten Schinken, den seine Mutter gekauft hatte, um Richter Feng zu bewirten. Mit diesen Lebensmitteln, vierhundert Qian in Münzen und einem Wechsel, der noch einmal fünftausend Qian wert war, konnten sie fürs Erste überleben. Wenn er auch noch das Brennholz für einen vernünftigen Preis loswerden würde, belief sich der Wert ihrer Besitztümer auf gut siebentausend Qian. Immerhin – mit dieser Summe würden sie ein paar Monate über die Runden kommen.
    Er lachte bitter auf. Bislang – bis zu dem schrecklichen Fund der Leiche von Shang – hatte seine einzige Sorge darin bestanden, jeden Morgen früh aufzustehen, sich über die Felder zu beklagen, die er pflügen musste, und seiner Zeit in der Universität nachzutrauern. Er hatte ein Dach über dem Kopf gehabt und eine Familie, die ihn beschützte.
    Jetzt beschränkten sich seine Besitztümer auf wenige Lebensmittel, Überreste eines Hausstandes und ein paar Münzen. Er trat hilflos einen Stock beiseite und dachte an seinen Vater. Was hatte den Mann in den letzten Tagen getrieben? Er war stets ein zuvorkommender und redlicher Mann gewesen. Vielleicht ein bisschen streng, aber ehrlich und vernünftig wie kaum ein Zweiter.
    Nachdenklich schnitt er eine Scheibe von dem geräucherten Schinken herunter, aß sie und verspürte gleich darauf Appetit auf eine weitere. Dann weckte er seine Schwester. Gleich nachdem sie die Augen aufgeschlagen hatte, fragte sie nach ihrer Mutter. Ci erinnerte sie daran, dass die Eltern eine lange Reise unternommen hatten.
    »Aber sie wachen über dich, also benimm dich wie eine kleine Dame.«
    »Und wo sind sie?«
    »In diesen Wolken da. Nun iss ein wenig Schinken, sonst grämen sie sich. Und du weißt ja, wie Vater sein kann, wenn er sich grämt.«
    »Aber unser Haus ist ja kaputt«, sagte Mei Mei, während sie an dem Fleisch knabberte.
    Ci nickte. Das war in der Tat das größte Problem. Er suchte nach einer Antwort.
    »Es war schon alt. Aber ich werde ein größeres bauen. Und dabei musst du mir helfen. In Ordnung?«
    Die Kleine schluckte und nickte tapfer. Ci knöpfte ihr die Jacke zu, und sie sang das Lied, das ihre Mutter ihr jeden Morgen gesungen hatte.
    »Fünf Knöpfe für fünf Tugenden, die ein braves Mädchen vereint: Lieblichkeit, ein gutes Herz, Respekt, Sparsamkeit und Gehorsam.«
    Ci fügte noch die Fröhlichkeit hinzu.
    »Das singt Mama aber nicht.«
    »Sie hat es mir gerade ins Ohr geflüstert.«
    Er lächelte und küsste Mei Mei auf die Wange. Dann setzte er sich an ihre Seite und dachte an den Reisherrn. Vielleicht war er die Lösung all seiner Probleme.
    * * *
    Vierhunderttausend Qian zusammenzubringen konnte problematischer sein, als einen Berg zu versetzen, doch in der Nacht hatte Ci einen Plan ausgearbeitet, der vielleicht funktionieren würde.
    Er griff nach dem Strafgesetzbuch, das er aus den Trümmern geborgen hatte, und las die Kapitel, die sich mit der Verurteilung wegen Mordes und der Umwandlung von Strafen beschäftigten. Der Text war vollkommen klar. Dann bot er seinen verstorbenen Eltern eine Scheibe Schweinefleisch auf einem improvisierten Altar dar. Als er seine Fürbitte beendet hatte, bat er seine Geister um Wohlwollen und machte sich mit Mei Mei auf den Weg zum Gut des Reisherrn, dem beinahe alle Felder des Dorfes gehörten. An der Mauer zum Eingang des Grundstücks

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