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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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eingerissen, und nur das sporadische Aufleuchten von Blitzen am Horizont durchbrach die Dunkelheit. Trotzdem rührte er sich nicht. Er wurde lieber nass wie eine Ratte, als dass er nach Hause zurückkehrte und sich erneut der unverständlichen Raserei seines verblendeten Vaters aussetzte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Durch die Ritzen derBalken flüsterte er Kirschblüte zu, dass er sie liebte, und sie klopfte einmal zur Antwort. Konnten sie auch nicht sprechen, da sie womöglich ihre Familie weckten, so spürte er doch wenigstens ihre Nähe. Er kauerte sich gegen die Wand und richtete sich ein, die Nacht unter dem Vordach zu verbringen, geschützt vor dem Wüten des Unwetters. Bevor er einschlief, dachte er an seine Unterhaltung mit dem Hüter der Weisheit. Er durchschaute den schändlichen Egoismus, der sich hinter dem Vorschlag des Hüters verbarg – und dennoch schien ihm der Handel die einzige Möglichkeit, Lu vor dem grausamen Tod der tausend Schnitte zu bewahren.
6
    Ci schlief wie ein Stein unter Kirschblütes Fenster, bis ein furchtbarer Knall ihn hochfahren ließ. Benommen rieb er sich die Augen und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Dann hörte er lautes Geschrei und lenkte seinen Blick in die Richtung, aus der es kam. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Am nördlichen Rand des Dorfes stieg eine breite Rauchsäule auf, genau dort, wo das Haus seiner Familie stand. Von Furcht getrieben, schloss er sich dem Strom von Dorfbewohnern an, die aus ihren Häusern krochen wie Mäuse aus ihren Löchern. Dann rannte er wie ein Verzweifelter los, schob die Schaulustigen beiseite, rannte immer schneller, und mit jedem Schritt wuchs seine Angst.
    Schwer legten sich die Rauchschwaden auf seine Lunge, als er sich dem Haus näherte. Wehklagende Menschen irrten umher, er stieß mit einem blutüberströmten Jungen zusammen, dessen Augen vor Schreck geweitet waren. Es war seinNachbar Chun. Als er ihn an den Armen fassen und fragen wollte, was geschehen war, brach der Junge zusammen. Verstört sah Ci sich nach Hilfe um, doch als er sich über Chun beugte, wusste er, dass jede Hilfe zu spät kommen würde – der Junge war tot.
    Ci kämpfte sich durch den Haufen aus Schutt und Holzbalken, die den Lehmboden der Straße übersäten. Chuns Haus war vollkommen zerstört. Fassunglos starrte er auf das Nachbargrundstück. Dort, wo einmal das Haus seiner Familie gestanden hatte, lagen nur noch die Trümmer des Infernos, das hier gewütet hatte. Ein Friedhof aus Steinen, glühenden Balken und eingestürzten Wänden bot sich ihm dar. Ein scharfer Geruch durchdrang alles, Panik schnürte ihm die Luft ab – wer unter diesen Trümmern begraben war, lag bereits in seinem eigenen Grab.
    Unwillkürlich stürzte er sich auf den Haufen aus Dachbalken und kaputtem Hausrat, der sich vor ihm auftürmte, und während er blindlings Steine und Holz beiseite warf und über die eingestürzten Mauern kletterte, rief er immer wieder die Namen seiner Eltern und seiner Schwester.
    »Barmherzige Götter, tut mir das nicht an! Tut mir das nicht an!«
    Wie ein Irrer schaufelte er die Überbleibsel seines Zuhauses von hier nach dort, seine Fingernägel brachen im Lehm und an Pfeilern, er verletzte sich an scharfen Ziegelsteinen und glühendem Holz, doch das klopfende Herz in seiner Brust ließ ihm keine Pause zum Nachdenken. Plötzlich entdeckte er zwei Hände neben den seinen. Er schrie auf, doch dann sah er durch den dichten Rauch, dass jemand an seiner Seite im Schutt wühlte. Mehrere Nachbarn waren damit beschäftigt, die Ruine zu durchwühlen wie Grabräuber.
    Schließlich hob er mit letzter Kraft einen Balken an undließ ihn sogleich entsetzt wieder fallen: Zerquetscht unter dem Schutt lagen die fürchterlich zugerichteten Leichen seiner Eltern. Ci verlor den Halt und schlug irgendwo mit dem Kopf auf. Plötzlich war nichts mehr als Rauch und Dunkelheit um ihn.
    * * *
    Als Ci wieder zu sich kam, begriff er nicht gleich, wo er sich befand, warum er mitten auf der Straße zwischen lauter Unbekannten auf dem Boden lag. Seine Kehle war trocken, er musste etwas trinken. Als er versuchte, sich aufzurichten, hielt ein Nachbar ihn zurück. Da erst bemerkte er, dass jemand seine Tagelöhner-Lumpen gegen frische weiße Wäsche ausgetauscht hatte: die Farbe des Todes und der Trauer. Was war geschehen? In seinem Kopf wirbelten Traum und Realität durcheinander.
    »Was … was ist passiert?«, brachte er mühsam hervor.
    »Du bist gestürzt und mit dem

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