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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Kopf aufgeschlagen«, gab der Nachbar knapp zurück.
    »Und hier … Was ist hier geschehen?«
    »Das wissen wir nicht. Wahrscheinlich war es ein Blitzschlag.«
    »Ein Blitzschlag?«
    Allmählich kehrte Cis Erinnerung zurück. Ein lauter Knall hallte in seinem Kopf wider, derselbe, der ihn in der Nacht zuvor aufgeweckt hatte. Verzweifelt schaute er sich um.
    »Das kann nicht wahr sein«, schluchzte er. »Das ist alles nur ein böser Traum.«
    Mühsam raffte er sich auf und schleppte sich zu der kleinen Menschentraube, die sich am Rande der Trümmer versammelt hatte. Ein scharfer, beißender Geruch lag in der Luft, einintensiver Gestank, der sich mit dem des verbrannten Holzes mischte – es roch nach Tod. Und da erblickte er die auf dem Boden aufgereihten Toten: den verstümmelten Körper des jungen Chun und die versengten Leichname seiner Eltern.
    Er begann am ganzen Leib zu zittern, bevor er sich auf die Knie fallen ließ und weinte, bis er keine Tränen mehr hatte und nur noch eine schmerzhafte Leere spürte.
    Wie aus weiter Ferne hörte er dem Bericht der Dorfbewohner zu. Ein Blitz sei gleich hinter dem Haus seiner Familie eingeschlagen, erzählten sie ihm, und der Brand habe vier Häuser zerstört und insgesamt sechs Menschenleben gefordert. Seine Schwester aber habe man gerettet.
    »Sie haben sie zusammengekauert unter den Trümmern gefunden«, erzählte einer der Umstehenden. »Sie hat nichts weiter abbekommen als eine Verstauchung.«
    Ci nickte abwesend. Trotz der Erleichterung, die er bei dieser Neuigkeit verspürte, zerfraßen ihn Kummer und Reue angesichts des Schicksals seiner Eltern. Er bereute es, mit seinem Vater gestritten zu haben, und er bereute das trotzige Vorhaben, das ihn dazu gebracht hatte, nicht im Haus zu schlafen. Wenn er seinem Vater gehorcht hätte, anstatt sich aufzulehnen, wenn er sich gefügt hätte und bei ihnen geblieben wäre, vielleicht wären sie dann noch am Leben. Oder wenigstens wäre er mit ihnen gestorben.
    Er fragte sich, welch schrecklichen Plan der Himmel mit ihm hatte: Nach der Ermordung Shangs und der Verurteilung seines Bruders nun dieses fatale Gewitter und der Tod seiner Eltern … Doch die kleine Mei Mei lebte! Vielleicht hatte deshalb auch er überlebt. Damit er sich um sie kümmerte.
    Dieser Gedanke weckte neue Kraft in ihm, und nachdem er erfahren hatte, dass der alte Ohne Zähne sie bei sich aufgenommenhatte, lief er Hals über Kopf zu ihm. Ohne Zähnes Frau hatte Mei Mei mit einer Leinendecke zugedeckt und ihr eine Lumpenpuppe geliehen, die das Mädchen im Schlaf fest umklammert hielt. Ci dankte den Alten für ihre Fürsorge und bat sie, auf die Kleine achtzugeben, während er die Totenwache für seine Eltern abhalten würde. Ci verabschiedete sich und kehrte zu der Ruine zurück, die einmal sein Haus gewesen war.
    Die Leichen seiner Eltern waren inzwischen in den Schuppen gebracht worden, den Bao-Pao bereitgestellt hatte. Dort hielt Ci bis zum Mittag Totenwache. Als er anschließend wieder den Unglücksort aufsuchte, um unversehrte Wertsachen zwischen den Trümmern zu suchen, waren die Aufräumarbeiten in vollem Gange.
    Zahlreiche Nachbarn halfen mit, doch als sie ihn erblickten, hielten sie feindselig inne und entfernten sich nach und nach. Sie machten keinen Hehl daraus, dass sie ihn, den Bruder des ehrlosen Lu, als den Schuldigen der Tragödie betrachteten.
    Ci biss die Zähne zusammen, krempelte die Ärmel hoch und begann mit der Arbeit.
    Stundenlang räumte er Bretter und Steine beiseite und legte zerschmetterte Möbelstücke und zerrissene Kleidung frei. Er stieß auf ein in tausend Scherben zersprungenes weißes Porzellangeschirr, das seine Mutter geliebt hatte. Er sammelte alle Stücke ein, die er finden konnte, und wickelte sie sorgsam in ein Tuch. Er fand auch die Pinsel seines Vaters, säuberte sie und legte sie zu den Scherben. Er stellte Eisentöpfe zur Seite und legte ein paar verbogene Messer dazu, die sich problemlos reparieren ließen. Die kunstvoll gefertigten Bretter der Fenstersimse und des Dachstuhls häufte er in einer Ecke auf, sie würden nur noch als Feuerholz für denWinter dienen. Zwischen einer Bank und einem Tischbein entdeckte er außerdem einige Bogen konfuzianischer Texte, die erstaunlicherweise unversehrt geblieben waren.
    Plötzlich hörte Ci Gelächter in seinem Rücken. Er wandte sich um, erhaschte jedoch nur noch einen flinken Schatten, der sich hinter ein Mäuerchen duckte. Ci war alarmiert und lief rasch zu dem Mäuerchen.

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