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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Hastig sprang der Nachbarsjunge Peng auf die Beine, ein Fratz von sechs Jahren, der Ci nicht einmal bis zum Gürtel reichte. Ci bot ihm ein paar Nüsse an, die er in dem Schutt gefunden hatte, doch das Kind lachte ihn frech aus und zeigte seine Zahnlücken. Als Ci die Hand zurückzog, kam der kleine Kerl näher.
    »Willst du sie?«
    Der Junge grinste verlegen und nickte.
    »Du bekommst sie, wenn du mir erzählst, was passiert ist.« Ci vermutete, dass der Junge in der letzten Nacht wegen seiner Zahnschmerzen wieder nicht geschlafen hatte. Aus den Augenwinkeln warf der Kleine unruhige Blicke hinter sich, als hätte er Angst, dass man ihn beim Bonbonklauen erwischte.
    »Es hat ein Blitz eingeschlagen, und der Berg ist verrutscht.« Peng griff nach den Nüssen. Doch Ci war schneller und zog seine Hand zurück.
    »Bist du sicher?«
    »Ich habe ein paar Männer gesehen …«
    »Ein paar Männer?«
    Der Junge wollte weitersprechen, doch da unterbrach ihn ein Schrei. Es war seine Mutter, die ihm befahl, ins Haus zu kommen, und der Junge rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Ci seufzte, schüttelte den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit.
    Am späten Nachmittag ließ Ci sich seufzend auf den Bodensinken. Er hatte immer noch nicht die Truhe mit dem Geld gefunden, das sein Vater für die Rückkehr in die Hauptstadt gespart hatte, das Geld, das er brauchte, um den Hüter zu bestechen. Er atmete tief durch und überlegte verzweifelt, dass er ohne Hilfe nicht weiterkommen würde. Doch gerade, als er aufgeben wollte, entdeckte er plötzlich eine Kante der Truhe, die aus einem Steinhaufen herausragte.
    »Und wenn es das Letzte ist, was ich tue«, schwor er sich grimmig. »Ich werde diese Steine beiseiteräumen.«
    Beharrlich räumte er Stein um Stein fort, bis nur noch ein letzter schwerer Brocken ihn von der Truhe trennte. Er nahm eine dicke Holzlatte zu Hilfe, um sie als Hebel zu benutzen, und platzierte sie zwischen Stein und Truhe. Dann stemmte er sich mit aller Kraft auf das Holz, doch der Stein bewegte sich keinen Millimeter. Er versuchte es noch ein paar Mal, bis er einsah, dass er die Latte an einer anderen Stelle ansetzen musste. Er legte noch einige Keile darunter, um die Hebelwirkung zu verstärken, dann suchte er mit den Füßen Halt und wiederholte die Prozedur. Seine Muskeln begannen zu zittern. Beim dritten Versuch rollte der Stein schließlich in einer Staubwolke den Hang hinunter. Ci wischte sich den Schweiß von der Stirn und wartete, bis sich der Staub gelegt hatte. Da bemerkte er, dass das Schloss der Truhe aufgesprungen war. Ungeduldig riss er den Deckel auf und förderte Stoffe und Tücher zutage – jedoch keinen einzigen Qian. Fassungslos starrte er auf seinen Fund.
    »Es tut mir leid, meine Frau hat gesagt, dass wir sie nicht bei uns behalten können«, hörte er plötzlich eine Stimme in seinem Rücken sagen. Ci fuhr herum und stieß beinahe mit Ohne Zähne zusammen. Hinter dem Alten stand mit gesenktem Kopf Mei Mei, die Lumpenpuppe fest an sich gedrückt.
    »Wie?«, fragte Ci entgeistert.
    Ohne Zähne deutete auf die Puppe. »Wenn sie möchte, kann sie sie behalten.«
    Ci biss sich auf die Lippen. Dass ihn nun sogar diejenigen ablehnten, die Freunde seines Vaters gewesen waren, erschütterte ihn. Er legte die Fäuste vor der Brust zusammen, um sich für die Puppe zu bedanken. Ohne Zähne nickte stumm und verschwand ebenso geräuschlos, wie er gekommen war.
    Mei Mei schaute den großen Bruder erwartungsvoll an. Ci dachte, dass sie wunderschön war. Krank, aber wunderschön. Eine Welle von Traurigkeit überspülte ihn. Seufzend strich er ihr über das Haar und griff dann nach ihrer kleinen Hand.
    Gemeinsam gingen sie die Straße hinunter ins Dorf, wo Ci eine Ration gekochten Reis für Mei Mei kaufte, für die er das Doppelte des normalen Preises bezahlte. Er selbst begnügte sich mit einem Schluck frischen Wassers.
    Bevor es dunkel wurde, kehrten die Geschwister zur Ruine ihres Hauses zurück. Ci suchte Bretter und trockene Zweige zusammen, aus denen er ein provisorisches Dach und ein Bett für Mei Mei errichtete. Er erklärte ihr, dass ihre Eltern eine Reise in den Himmel unternommen hätten und dass von nun an er auf sie aufpassen würde. Bald aber werde er ein neues großes Haus für sie beide bauen mit einem Garten voller Blumen und einer Holzschaukel. Dann küsste er sie auf die Stirn und wartete, bis sie eingeschlafen war.
    Kaum war Mei Mei eingeschlafen, machte Ci sich wieder an die

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