Der Totenleser
Gegner nervös.
»Ich mache dir keine Vorwürfe. Feiglinge wie dich habe ich schon öfter getroffen. Du musst es also nicht tun«, sagte Ci sehr laut, damit ihn alle hören konnten.
In den Gesichtern der Anwesenden las der Hüne, was für einen Eindruck die Herausforderung gemacht hatte. Er fürchtete den Burschen nicht, aber wenn er dessen Angebot ablehnte, würde sich der Zweifel bezüglich seiner Männlichkeit im ganzen Hafen ausbreiten. Und das durfte er nicht zulassen.
»Einverstanden, du Wicht. Ich werde dir dein Geschwätz zusammen mit deinen Zähnen ins Maul stopfen«, brüllte er.
Jubelnd begrüßte die Menge den Entschluss, und es wurde neues Geld gesetzt. Als sich die Gemüter beruhigt hatten, ergriff Ci wieder das Wort.
»Lasst uns die Köche rufen, sie sollen die Messer führen. Wenn niemand etwas dagegen hat, gelten die üblichen Regeln: Sie fangen an der Brustwarze an, schneiden spiralförmig um sie herum und verlängern den Schnitt nach außen, wobei sie immer tiefer gehen, und erst aufhören, wenn einer vor Schmerzen schreit.«
»Einverstanden«, stimmte der Hüne zu. »Aber ich stelle auch eine Bedingung.«
Erwartungsvoll blickten die Zuschauer ihn an. Ci hatte Angst, aber er konnte nicht mehr zurück.
»Raus damit.«
»Egal, wer gewinnt, der Sieger stößt dem andern das Messer ins Herz.«
13
»Ich setze zehntausend auf den Jungen!«
Alle, auch Ci, drehten sich verblüfft um.
»Er ist verrückt geworden«, wurde ringsum getuschelt.
»Er wird alles verlieren«, raunte jemand.
Der Wahrsager blieb dabei. Er zog eine Brieftasche aus der Hose und daraus einen Schein, der exakt dem genannten Wert entsprach. Der Wettleiter nahm das Geld und prüfte die Stempel und Signaturen auf der Vorderseite sowie die Abbildung auf der Rückseite des Scheins – er war echt. Nachdem der Wettleiter sich davon überzeugt hatte, dass die übrigen Spieler genügend Geld aufbrachten, um eine hypothetische Niederlage des Hünen abzudecken, eröffnete er mit einem Gongschlag das Duell.
Ci nahm etwa drei Schritte von seinem Gegner entfernt Platz. Zu beiden Seiten standen zwei instruierte Köche mit Messern bereit, auf deren Klingen gekennzeichnet war, bis zu welcher Tiefe sie ins Fleisch schneiden sollten. Während Ci einen Schnaps trank, musterte der Hüne aus den Augenwinkeln heraus die Messer, wie jemand, der versucht abzuschätzen, ob die Schlange vor seiner Nase giftig ist oder nicht. Dann spuckte er aus und verlangte lautstark eine neue Flasche.
Der Wettkampf begann.
Der erste Koch tauchte einen Pinsel in schwarze Tinte und malte den Weg, den das Messer beschreiten sollte, aufdie gewölbten Muskeln des Hünen. Als der zweite Koch Ci mit dem Pinsel über die Brust fuhr, überlief ihn ein Schauer. Auf dem entstellten Oberkörper Cis war bereits eine ähnliche Linie von einer tiefen Narbe ins Fleisch gegraben. Sofort begriff er, dass der Junge sich nicht zum ersten Mal dem Drachentest stellte.
Während der Koch ihn bemalte, senkte Ci die Lider, um den Schutz der guten Geister zu erbitten. Drei Jahre zuvor hatte er gegen seinen Willen an einem ähnlichen Wettbewerb teilnehmen müssen, weil er die Ehre eines Familienmitgliedes verteidigen wollte. Damals hatte er gesiegt, obwohl ihn das Duell beinahe das Leben gekostet hätte. Das war die Kehrseite der Medaille: Zwar spürte er den Schmerz nicht, doch es warnte ihn auch nichts vor der tödlichen Gefahr. Tatsächlich war es möglich, dass das Messer seine Lunge traf, bevor das andere durch die dicke Schicht aus Fett und Muskeln drang, die den Leib des Riesen umhüllte. Doch er musste dieses Risiko eingehen – für seine kranke Schwester Mei Mei.
Gleich würde das Spektakel beginnen, der Raum war erfüllt vom Geschrei der Schaulustigen. Sie kamen Ci vor wie eine hungrige Jagdmeute, für die er das Wild war.
Den Einstich spürte er nicht, er sah lediglich das Blut, das unter seiner Brustwarze hervorquoll und über seinen Bauch lief. Das war der schwierigste Moment, er durfte nicht erschrecken über den Anblick, der sich ihm darbot. Jedes Zurückzucken konnte bedeuten, dass er die Wette verlor. Er atmete tief und gleichmäßig. Während der Schnitt auf seiner Brust immer länger wurde, beobachtete er, wie der erste Koch bei dem anderen seine Arbeit verrichtete.
Als die Klinge in den bräunlichen Warzenring des Hünen eindrang, verzog sein Gegner vor Schmerz das Gesicht. Inden Händen der Köche arbeiteten sich die Messer langsam, aber unerbittlich voran,
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