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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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bahnten sich ihren Weg durch immer tiefere Furchen, zerteilten Fett und Fleisch, zertrennten Muskeln, ließen Blut spritzen, zerfetzten Gewebe und riefen bei den Kontrahenten immer qualvollere Grimassen hervor. Bei Ci waren sie nur vorgetäuscht, bei dem Hünen hingegen echt. Trotzdem blieb der Mund des Riesen verschlossen, blieben seine Kiefer zusammengepresst, die Kehle zugeschnürt. Nur in seinem grimmigen, auf Ci gehefteten Blick spiegelte sich seine Pein.
    Plötzlich bemerkte Ci, dass die Messerspitze an seinen Rippen stoppte, ein Haarbreit vom Herzen entfernt. Ci hielt den Atem an. Jede abrupte Bewegung konnte ihn nun in Lebensgefahr bringen. Der Hüne registrierte die Veränderung in Cis Ausdruck sofort, und da er sie als Vorzeichen seines Sieges deutete, ließ er einen neuen Krug Schnaps kommen. Ci spornte den Koch an, weiterzumachen, denn wenn dieser zu lange zögerte, würde er aufgeben müssen.
    »Bist du sicher?«, fragte der Koch mit zitternder Hand.
    Ci nickte, also biss der Gehilfe die Zähne aufeinander und schloss die Finger fest um den Griff der Klinge. Ci spürte die Anspannung des Mannes, während seine Brust unter den Messerstichen bebte. Der Koch wartete auf einen Hinweis, dass er aufhören solle, aber Ci dachte nicht daran.
    »Mach weiter, los!«
    In diesem Augenblick ließ der Riese ein fürchterliches Lachen vernehmen.
    »Wer ist hier der Feigling?«, brüllte er und schüttete sich den Inhalt des Kruges in den Schlund.
    Ci wusste, dass die Tragödie unausweichlich war – aber er brauchte das Geld. Und dann geschah es: Das Gesicht des Hünen wurde bleich, und seine Augen weiteten sich. Blutüberströmtwankte er, das Messer in Herzhöhe bis zum Heft im Leib, auf Ci zu.
    »Er war es … Er … er hat sich bewegt«, stammelte der Koch entsetzt.
    »Ver… damm… ter … Kerl!«
    Das waren die letzten Worte des Giganten, bevor er vornüberkippte wie ein einstürzender Berg und Tische und Stühle mit sich riss.
    Einige versuchten ihn wiederzubeleben – ohne Erfolg.
    »Los, weg hier! Schnell!«
    Ci blieb keine Zeit, sich anzukleiden. Der Wahrsager packte ihn in dem Durcheinander am Arm und zog ihn zu einer Hintertür. Keuchend ließ sich Ci zu Boden sinken.
    »Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, meinte das Männlein bestimmt und half Ci wieder auf die Beine. »Hier, reinige damit deine Wunden!« Ci ergriff die Stofffetzen, die der Mann ihm hinstreckte, und nachdem er seine Wunden gereinigt hatte, folgte er ihm durch eine Gasse in Richtung Kanal bis zu einer steinernen Brücke, unter der sie sich versteckten.
    »Warte hier auf mich«, sagte der Gaukler und verschwand in die Nacht.
    Ci wartete eine Weile, dann fragte er sich, ob er den Mann je wiedersehen würde. Zu seinem Erstaunen tauchte er jedoch wenig später mit einem Sack voller Krempel wieder auf.
    »Ich musste den Jungen an der Tür beauftragen, den Rest in einem Lagerraum zu verstecken. Wie geht es dir? Zeig mal … Beim Erleuchteten! Ich weiß immer noch nicht, wie du es geschafft hast, ihn zu besiegen.«
    »Und ich nicht, warum du auf mich gesetzt hast.«
    »Das erkläre ich dir später.« Der Wahrsager kramte in seinem Bündel. Schließlich förderte er Verbandszeug zutageund legte es Ci auf die Wunden. »Beim großen Dämon Swhan! Woher hast du diese Verbrennungen?«
    Ci antwortete nicht. Der Mann befestigte den Verband mit einem alten Stofffetzen. Danach zog er sein Eselsfell aus und hüllte den Jungen darin ein, dem die Kälte aus den Bergen in die Knochen zu kriechen begann.
    »Sag, hast du Arbeit?«
    Ci schüttelte den Kopf.
    »Wo wohnst du?«
    »Das geht dich nichts an. Hast du das Geld bekommen?«, fragte Ci.
    »Natürlich. Ich bin Wahrsager, aber kein Idiot.« Er klimperte mit einem Beutel voller Münzen. »Meinst du das?«
    Ci zählte – achthundert Qian, aus denen eintausendsechshundert geworden waren. Das war weniger, als ihm zustand, doch er fühlte sich nicht in der Lage, zu streiten.
    »Ich muss los«, sagte er unvermittelt.
    »Wie bitte? Weshalb hast du es so eilig? Schau dich an. Mit dem Bein wirst du nicht weit kommen.«
    »Ich brauche eine Apotheke.«
    »Um diese Zeit? Außerdem verarzten sie dir solche Wunden nicht in einer Apotheke. Ich kenne einen Heiler, der …«
    »Ich brauche sie nicht für mich.« Er versuchte aufzutreten, hinkte aber. »Verflixtes Bein!«
    »Verdammt! Setzt dich hin, sonst entdecken sie uns. Die, die dort ihren Lohn verwettet haben, sind keine buddhistischen Mönche. Wenn ihr Rausch

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