Der Totenleser
verflogen ist, holen sie sich das Geld zurück und bringen uns um.«
»Ich habe rechtmäßig gewonnen.«
»Ja. Genauso rechtmäßig wie ich mit den Grillen. Mich legst du nicht herein, Junge. Ich habe gesehen, wie der Hüne deine Schulter gepackt hat. Du hast nicht mit der Wimpergezuckt. In dem Moment habe ich nicht darauf geachtet, aber dann, als du die ganzen Narben entblößt hast, und vor allem die Narbe vom Drachentest … Komm schon, Kleiner! Du hast dieses Spiel nicht zum ersten Mal gespielt und wusstest genau, was du tatest. Und eins sage ich dir: Ich weiß zwar nicht, wie du es machst, aber du hast alle diese Leute getäuscht. Auch den Muskelprotz. Nur mich nicht, Xu, den Wahrsager. Deshalb habe ich auf dich gesetzt.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Klar, ich habe auch keine Ahnung von Magneten, aber … Gut, lass mich einen Blick auf dein Bein werfen.« Er schob das Hosenbein hoch und untersuchte die Wunde. »Hilfe! Hat dich ein Tiger gebissen?«
Ci presste die Zähne aufeinander. Er verlor kostbare Zeit und konnte nicht länger warten. Schließlich hatte er nicht sein Leben für Mei Mei riskiert, um die ganze Nacht in irgendeinem Versteck zu hocken.
»Ich muss los. Kennst du nun eine Apotheke oder nicht?«
»Ich kenne eine, aber sie werden dir nicht aufmachen, es sei denn, ich begleite dich. Kannst du nicht bis morgen warten?«
»Nein, kann ich nicht.«
»Verdammter Sturkopf ! In Ordnung, gehen wir.«
Im Schutz des Nebels gingen sie durch die Gassen des Hafenviertels. Als sie sich den Lagerhäusern näherten, verband sich der Geruch nach fauligem Fisch mit der Kälte zu einem ekelerregenden Gestank. In der Grätengasse, wo die Reste und Innereien der Fische ihren letzten Nutzer fanden, blieb der Wahrsager stehen. Er umging die stinkenden Blutlachen und klopfte an die zweite Tür eines Gebäudes, das wie der Unterschlupf einer Räuberbande aussah. Nach einer Weile kündigte Laternenschein das Näherkommen eines Mannes an.
»Mach auf. Ich bin’s, Xu.«
»Bringst du, was du mir schuldest?«
»Zum Henker! Mach auf. Ich bringe einen Verletzten.«
Dem Geräusch eines rostigen Schlosses folgte das Knarren der sich öffnenden Tür. Dahinter erschien ein mit Furunkeln übersäter Mann, der sie von Kopf bis Fuß musterte und missmutig vor sich ausspie.
»Hast du mein Geld dabei?«
Xu stieß ihn zur Seite und trat ins Haus. Wenn das Äußere schon an eine Räuberhöhle erinnerte, so war das Innere ein Schweinestall. Nachdem er sich an den Anblick gewöhnt hatte, fragte Ci nach dem Medikament. Der Apotheker mit den Furunkeln nickte und verschwand hinter einem Vorhang.
»Mach dir keine Sorgen. Er ist eine Ratte, aber vertrauenswürdig«, beruhigte ihn der Wahrsager.
Wenig später kehrte der Mann mit dem Medikament zurück. Ci probierte. Es war das richtige, wenn auch nur eine kleine Menge. Er fragte nach mehr, doch der Mann sagte, das sei alles, was er habe. Dafür verlangte er eintausend Qian, begnügte sich aber am Ende mit achthundert.
»Ach, und gib ihm auch was für das Bein«, bat Xu seinen Bekannten.
»Ich glaube nicht …«
»Ruhig bleiben, Junge. Das geht auf meine Rechnung.«
Der Wahrsager bezahlte, und sie verließen die Räuberhöhle. Es begann zu regnen, der Wind frischte auf. Ci wollte sich von Xu verabschieden.
»Danke.«
»Nichts zu danken. Hör mal, ich habe nachgedacht … Du hast doch keine Arbeit.«
»Das stimmt.«
»Weißt du, ich bin seit vielen Jahren im Hauptberuf Totengräber. Eine gutbezahlte Arbeit, wenn man mit den Angehörigen der Verstorbenen umzugehen weiß. Ich arbeite auf den Feldern des Todes, dem Großen Friedhof von Lin’an. Das mit dem Hellsehen ist nur ein Nebenerwerb. Sobald du ein paar Dummköpfe übertölpelt hast, wissen es alle, und schon ist der Trick mit der Grille im Eimer. Ich muss ständig das Viertel wechseln, aber die Mistkerle von der Organisation kontrollieren alles. Entweder du bezahlst sie oder du suchst dir besser einen anderen Ort. Lin’an ist groß, aber nicht so groß.«
»Verstehe …« Ci hatte es eilig, wollte jedoch nicht undankbar wirken.
»Um ein paar Qian extra zu verdienen, muss ich Süßigkeiten verkaufen, Töpfe reparieren, die Zukunft vorhersagen und Geschichten erzählen. Und was ich heute Nacht eingenommen habe, ist auch nicht so viel. Verdammt! Ich bin verheiratet, und der Wein und die Nutten kosten auch Geld.«
»Verzeih mir, aber …«
»Schon gut, schon gut. Wo lang gehst du? Nach Süden? Kein Problem,
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