Der Totenleser
gehen wir. Ich begleite dich.«
Ci sagte ihm, dass er am Kaiserlichen Kanal ein Boot nehmen werde – jetzt, da er es sich leisten könne.
»Das ist der Vorteil, wenn man Geld hat. Hast du Lust, noch mehr Geld zu haben?« Er machte eine Pause, um Cis Antwort abzuwarten. Doch als sie ausblieb, fuhr er fort: »Wie ich schon sagte, die Sache mit den Grillen reicht gerade mal, um die Ausgaben zu decken. Aber wir könnten uns zusammentun. Ich kenne die Marktplätze, die geeigneten Ecken. Ich weiß, wie man die Leute austrickst, und du mit deiner Gabe … Wir könnten uns eine goldene Nase verdienen!«
»Was meinst du?«
»Wir würden es vorsichtig angehen. Nicht wie bei diesem Hünen, nein. Wir suchen uns Angeber, Prahlhänse und Maulhelden, betrunkene Wichtigtuer und Aufschneider. Der Hafen ist voll von Affen, die bereit sind, ihren Kopf gegen einen grünen Jungen zu verwetten. Wir nehmen sie aus, und bevor sie es merken, sind wir mit ihrem Geld über alle Berge.«
»Danke für das Angebot, aber ich habe andere Pläne.«
»Andere Pläne? Sagst du das wegen deines Anteils? Ich überlasse dir natürlich die Hälfte der Einnahmen. Oder denkst du etwa, du könntest es allein machen? Ist es das? Wenn du das denkst, dann irrst du dich, mein Junge. Ich …«
»Nein. Das ist es nicht. Aber ich bevorzuge eine weniger gefährliche Arbeit. Ich muss jetzt gehen. Hier, dein Fell.«
»Nicht nötig. Du kannst es behalten. Warte … Wie heißt du?«
Anstelle einer Antwort dankte Ci dem Wahrsager und hinkte zu dem Kahn, der in seine Richtung ablegte.
* * *
Die Überfahrt erschien ihm unerträglich lang, als rückten die Götter den Horizont in immer weitere Ferne, je näher er kam. Er dachte unentwegt an seine Schwester Mei Mei. Er hatte das schreckliche Gefühl, ihr sei etwas Böses widerfahren. Stolpernd hastete er die Treppe der Pension hinauf, ohne auf sein verletztes Bein zu achten. Der Vorhang zu der Türöffnung ihres Unterschlupfes war zugezogen – und dahinter: Stille. Das einzige Geräusch war sein eigener Herzschlag. Langsam schob er den Vorhang zur Seite.
Er rief Mei Meis Namen, doch nichts rührte sich. SeineHände zitterten, als er auf ihr Versteck zutrat. Er betete, dass Mei Mei schlief. Vorsichtig teilte er die Bambuszweige. Dahinter lag ein zusammengesunkenes Bündel, reglos und schlaff. Ci blieb das Herz stehen. Das Schlimmste fürchtend, streckte er die Hand aus, bis seine Finger das auf dem Boden liegende Häuflein aus Lumpen streiften.
Ein Schrei des Entsetzens entrang sich seiner Kehle.
Unter dem Bündel war nichts. Nur eine nasse Decke und die Kleidung, die Mei Mei am Morgen getragen hatte.
14
Den Namen seiner Schwester rufend, stürzte Ci die Treppen hinunter. Atemlos kam er im ersten Stock an, drang in die Wohnung des Pensionswirtes ein und zerrte ihn gewaltsam von der Matte, auf der er schlief. Der Mann hielt schützend die Hände über den Kopf, als Ci ihn wütend beim Kragen packte.
»Wo ist sie?«, fragte er keuchend.
»Wo ist wer?« Dem Wirt traten die Augen hervor, so fest drückte Ci ihm die Luft ab.
»Das Mädchen, das ich mitgebracht habe. Antworte, oder ich bringe dich um!«
»Sie … Sie ist da drin«, krächzte der Vermieter.
Ci ließ ihn los und jagte wie ein Besessener durch die Hinterzimmer, bis er in eine finstere Abstellkammer voller alter Schemel und schiefer Schränke gelangte, die er der Reihe nach öffnete. Schließlich entdeckte er eine kleine Tür, hinter der sich ein letztes Zimmer auftat. Das flackernde Licht einer kläglichen Öllampe fiel auf abbröckelnde Wände, an denen Raumteiler, Schlafmatten, Angelgerät und Kisten lehnten. Erschrak zusammen, als er plötzlich eine junge Frau entdeckte, die auf dem Boden hockte und zitterte, als hätte sie einen bösen Geist erblickt. Ci erstarrte: Auf ihrem Schoß ruhte reglos Mei Meis zierlicher Körper.
Im nächsten Moment traf ihn ein Schlag auf den Hinterkopf, er verlor das Bewusstsein.
* * *
Mit klebriger Zunge und dröhnendem Schädel erwachte er in der Dunkelheit. Das Atmen fiel ihm schwer. Unweit von ihm flackerte immer noch die Lampe und warf Schatten. Er lag auf dem Bauch, gefesselt und geknebelt. Als er versuchte, sich aufzurichten, drückte ihn ein Fuß auf seiner Wange wieder zu Boden. Er konnte nicht erkennen, wer es war, allein der Geruch erinnerte ihn an die Ausdünstungen des Pensionswirtes. Die Stimme bestätigte seine Ahnung.
»So dankst du es uns also, du verdammter Bastard? Ich sollte dich gleich auf
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