Der Totenleser
gelingen. Der Gigant richtete sich auf, bis er fast die Decke berührte, und sah mit der Geringschätzung eines Menschen auf ihn herab, der gleich eine Kakerlake zertreten und danach den Schmutz von seinem Schuh reiben wird. Der Riese spuckte in seine Hände und hielt sie demonstrativ in die Höhe, um die Wetten noch ein wenig anzuheizen.
Mei Mei!, schoss es Ci durch den Kopf. Der Gedanke an seine kleine Schwester gab ihm neue Kraft, er beschloss alles auf eine Karte zu setzen.
»Es ist nicht das erste Mal, dass ich jemanden wie dich erledige«, rief Ci.
»Was sagst du da?« Der Hüne lachte und holte zum Schlag aus, aber Ci sprang rechtzeitig beiseite. »Ich werde dein Herzessen und den Rest an die Hunde verfüttern, du Hampelmann.« Der Riese hob den Arm abermals, doch Ci wich dem Angriff wieder erfolgreich aus.
»Bringt uns Messer!«, verlangte Ci selbstbewusst.
Der Hüne kippte eine Schale Schnaps hinunter. »Du hast soeben dein eigenes Todesurteil gesprochen«, sagte er, wischte sich mit dem Arm über den Mund und griff nach einem der Messer, die ein Kellner aus der Küche herbeigebracht hatte.
Ci wog seines in der Hand. Es war scharf wie ein Schwert. Als er sich in Positur stellte, trat der Bursche, der die Wetten führte, tollkühn zwischen sie.
»Setzt jemand auf den Angeber?« Er grinste. »Kommt schon, ich muss die Wetten abdecken. Der Junge ist flink. Wenigstens eine Runde wird er überstehen …«
Alle grölten begeistert, aber niemand setzte auf Ci.
»Dann setze ich eben selbst auf mich«, sagte Ci zur Verblüffung der Anwesenden. »Achthundert Qian!« Er sah zu dem Wahrsager hinüber, der ihn ungläubig anstarrte, dann aber nickte und unter seinem Gewand die Münzen hervorholte, die Cis Einsatz entsprachen. Der Wettleiter nahm das Geld mit einem zufriedenen Grunzen entgegen.
»Sehr schön. Noch jemand? Nein? Also gut … Der Kampf möge beginnen!«
Der Hüne zwinkerte siegesgewiss einem Bekannten zu und prahlte damit, wie er diesen Frechling mit den feinen Gesichtszügen tranchieren werde. Betont langsam entledigte er sich seiner Hemdjacke und zeigte ein paar Muskelpakete, die einem Stier zur Ehre gereicht hätten. Mit nacktem Oberkörper wirkte er noch imposanter, als er es ohnehin tat, aber Ci ließ sich nicht beeindrucken. Nun nahm der Hüne einen Napf Öl und goss ihn über seine Brust, um sich damit einzuschmieren.Als er fertig war, wartete er ungeduldig darauf, dass Ci das Gleiche tat. Doch Ci rührte sich nicht.
»Hast du Schiss bekommen?«, rief der Kerl.
Ci gab keine Antwort. Bedächtig, als handele es sich um einen rituellen Akt, öffnete er die fünf Knöpfe, die seine Hemdjacke zusammenhielten. Von der Langsamkeit jeder Bewegung, von seiner seltsamen Gelassenheit fasziniert, beobachteten die Umstehenden ihn aufmerksam. Sie wollten, dass das Gemetzel endlich anfing, doch Ci ließ sich Zeit. In aller Ruhe zog er das Hemd auseinander und ließ es zu Boden gleiten. Ein Raunen ging durch den Raum.
Im Gegensatz zum Ebenmaß seines Gesichts war sein Körper gezeichnet von Narben und Verbrennungen, stummen Zeugen fürchterlicher Begebenheiten. Bei diesem Anblick schrak selbst der Hüne zurück.
Ci faltete die Hemdjacke zusammen und legte sie auf einen Tisch. Als er das tat, traten die Umstehenden beiseite, um ihn durchzulassen.
»Ich bin bereit«, verkündete er, und die Menge tobte. »Vorher aber …« Das Publikum verstummte erwartungsvoll. »Vorher aber möchte ich diesem Mann die Chance geben, sein Leben zu retten.«
»Heb dir dein Gewäsch für den Sarg auf !«, antwortete der Hüne halb erstaunt und halb empört.
»Du solltest mich ernst nehmen.« Cis Augen verengten sich zu Schlitzen. »Oder denkst du, jemand, der Verletzungen wie die, deren Spuren ich am Körper trage, überlebt hat, ist leicht zu töten? Es ist für mich kein Vergnügen, einen Menschen umzubringen, deshalb will ich dir den Drachentest anbieten.«
Der Hüne blinzelte irritiert. Der Drachentest war ein Kampf, bei dem es nicht so sehr auf Kraft ankam und demsich nur wenige zu stellen wagten. Er bestand darin, sich selbst mit dem Messer nach einem auf den Körper gemalten Muster Wunden zuzufügen; Wunden, die so gefährlich waren, wie die Gegner es jeweils festlegten, und so tief, wie man es aushalten konnte. Wer als Erster schrie, hatte verloren.
»Du hältst mich wohl für blöd. Warum sollte ich mich selbst verletzen, wenn ich dich erledigen kann, ohne einen einzigen Kratzer davonzutragen?«, rief sein
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